|
AUTO: Nr. 10, April 2004
Max Stirner: Reich & Staat (1)
Der Ruf nach einem Aufgehen der einzelnen deutschen Staaten im Deutschen Reiche wird keineswegs schwächer, daß man jenes Verlangen für eine vorübergehende
Phantasterei halten könnte, es läßt sich vielmehr von Tag zu Tag immer lauter vernehmen, und verstummt selbst bei denen nicht, die mit dem unverantwortlichen Reichsverweser und der ganzen deutschen
Nationalversammlung unzufrieden sind. Was liegt diesem Begehren zu Grunde?
Man macht sich von dem, was das Deutsche Reich sein soll, verschiedene Vorstellungen. Theils will man darunter einen Staatenbund, theils einen Bundesstaat,
theils einen eigenen deutschen Staat verstehen. Es wäre so immer nur das in einem vergrößerten Maßstabe, was die einzelnen Staaten jetzt schon im kleinen sind: ein Staat und nicht ein – Reich, ein deutscher
Staat und nicht ein deutsches Reich. In dem richtigen Gefühle, daß Reich und Staat nicht einerlei seien, hat man zwar für das einige Deutschland den Ausdruck “Reich” angenommen; aber man ist des
Gegensatzes so wenig bewußt geworden, daß man in demselben Athem ausruft: “Wir wollen einen einigen deutschen Staat bilden!”
Dagegen scheint jene Sehnsucht nach einem einigen Reiche gerade aus dem Ueberdruß am Staate, am Staatsleben und an der Staatenbildung entsprungen zu sein. Was
ist das Reich anders, als, um es mit einem andern Worte sinnfälliger zu bezeichnen, eine Landsmannschaft? Der Verkehr in einem Reiche ist ein landsmannschaftlicher, ein Verkehr von Landsleuten unter einander.
Der Hannoveraner will, wenn er nach München reist, nicht blos bairische Bürger, sondern Landsleute finden, und so umgekehrt. Das Interesse des Reiches und der Reichsbürger ist das des friedlichen
landsmannschaftlichen Verkehrs, die Bürger eines Reiches bleiben Landsleute zu einander und können in den besten landsmannschaftlichen Beziehungen und Verbindungen miteinander stehen, ohne irgendwie zugleich
Gesinnungsgenossen zu sein. – Nicht so die Bürger eines Staates. Das Band, welches die Staatsbürger verbindet, ist nicht das der gleichen Landsmannschaft, sondern das der gleichen Gesinnung; der Staat oder die
Staatsgesellschaft ist eine Gesinnungsgemeinschaft. Hierin, wie überhaupt in Allem, gleicht der Staat der Kirche, nur daß der Staat eine Gesinnungsgemeinde, die Kirche aber eine Glaubensgemeinde ist.
Staat und Reich sind mithin ihrem ganzen Wesen nach verschieden, da der eine zu seinem Bestande eine gleiche Gesinnung, der andere weiter nichts als eine
landsmännische Verträglichkeit und Friedlichkeit des Verkehrs voraussetzt. Während der Staat bei seinen Bürgern keine entgegengesetzten Gesinnungen dulden kann, bleibt das Reich von der größten
Gesinnungsverschiedenheit unberührt; ein monarchischer Staat z. B., in welchem ein großer Theil der Bürger in seiner Gesinnung umschlüge und eine republikanische Gesinnung offenbarte, würde das Schicksal einer
Kirche haben, in der die Ketzerei um sich griffe: entweder müßte er, wie die Kirche der Andersgläubigen oder Ketzer, so die Andersgesinnten ausstoßen und ausrotten, oder er müßte zu Grunde gehen. Aehnlich der
Kirche, welche nur durch die Rechtgläubigkeit besteht, besteht der Staat nur durch die rechte Gesinnung, und wie die Kirche um ihrer selbst willen gegen die Ketzerei nicht tolerant sein darf, so würde auch der Staat
sich selbst vernichten, wenn er gegen die “schlechte Gesinnung” Nachsicht üben, und z. B. eine “schlechte Presse” dulden wollte. Eine schlechte Presse ist aber in einer Republik diejenige,
welche antimonarchische Gesinnungen äußert, gleichwie in einer lutherischen Kirche derjenige ein schlechter, seines Amtes unwürdiger Prediger ist, der den lutherischen Glauben verfälscht, oder in einer katholischen
derjenige, der einen dem Katholicismus entgegengesetzten Glauben verkündet.
Hiergegen nun verhält sich das Reich, weil es vom Reichsbürger keinerlei Gesinnung, sondern bloss ein friedliches Benehmen fordert, völlig gleichgültig; dem Reiche liegt ebenso wenig daran, ob seine Bürger nebenbei royalistisch oder constitutionell oder republikanisch u. s. w. gesinnt sind, als dem Staate (und z. B. Friedrich dem Großen, der durch und durch Staatsmann war) darauf ankommt, welchen kirchlichen Glauben die Staatsbürger haben, oder “auf welche Façon Jeder selig werden will.” Wenn die Anhaltiner z. B. unter sich eine Republik bilden wollten, so würde das Reich als Reich gegen die Bildung dieser republikanischen Gesinnungsgemeinde eben so wenig eine Einwendung machen, als es Einspruch thäte, wenn die Anhaltiner ihren Glauben änderten und katholisch würden. Nur wenn er verkennt, was das Reich im Unterschiede vom Staate ist, kann der Reichsverweser sich verleiten lassen, denselben Fehler zu begehen, in den diejenigen Fürsten geriethen, welche den Glauben der Staatsbürger überwachten und die Glaubensfreiheit unterdrückten. Erhält er hingegen die Bedeutung des Reiches in ihrer Reinheit, so werden die Fürsten dem Reiche und dem Reichsverweser gegenüber zu dem, was die Kirchen-Prälaten dem Staate und dem Staatsoberhaupte gegenüber sind: wie diese Mittelpunkte derjenigen Gläubigen sind, welche ihr Glaube um diese Mittelpunkte versammelt, so sind dann die Fürsten Mittelpunkte derjenigen Gesinnungsvollen, welche vermöge ihrer Gesinnung dieser Mittelpunkte bedürfen.
Dieser wesentliche Unterschied zwischen Reich und Staat scheint die Ursache zu sein, weshalb jetzt die Sehnsucht nach einem Aufgehen der einzelnen Staaten in
das Reich so allgemein wird. Es ist das Ringen nach der Freiheit, aus dem Staatenverbande und dem Staatsbürgerthum ungestraft austreten zu können, oder mit anderen Worten: ein Reichsbürger zu sein, ohne ein
Staatsbürger sein zu müssen. Dieser Drang wird zwar auch im Reiche seine volle Befriedigung nicht finden; aber er meint darin einstweilen wenigstens vor der Zwingherrschaft der Staatsbürgerlichkeit dieselbe Rettung
zu finden, die der Staat dem Glaubenslosen vor der Zwingherrschaft einer intoleranten Kirchlichkeit bot.
Uebrigens drücken sich die Adressen, welche von allen Seiten her einlaufen, über den hier behandelten Gegenstand noch sehr unvollkommen aus und zeigen mehr
Eifer für die Auflösung des preußischen Staates, als unparteiische Einsicht in die Sache. Sie machen daher dem Staate auch ganz ungerechtfertigte Vorwürfe. So heißt es z. B. in einer der unumwundensten, der an die
preußische Nationalversammlung gerichteten Adressen aus dem Kreise Reichenbach in Schlesien: “Ein preußischer Staat hat bisher nur als Conglomerat willkürlich durch Kaufverträge und Eroberung vereinter
Länderstrecken, mit den am Boden geknechteten Unterthanen, als Privatbesitz, Domäne oder Fideicommiß einer Familie bestanden, nicht als freie Rechtsgemeinschaft eines Volkes.” Das ist ebenso unwahr, als wenn
man sagte, eine Kirchen- oder Glaubensgemeinde sei ein bloßes “Conglomerat”. Der preußische Staat bestand vielmehr aus Leuten, welche Alle ein und dieselbe Huldigung leisteten, oder ein und dasselbe Gesinnungsbekenntniss, das Bekenntniss der treuen Gesinnung für ihren Fürsten. Es war ein geistiges Band, ein Band der Gesinnung, welches Alle umschlang, und wogegen erst im März dieses Jahres laut und offen von einigen Seiten her protestirt wurde. Ebenso ist Folgendes unrichtig: “Ein besonderes preußisches Volk hat es nie gegeben; denn die gewaltsame Vereinigung mehrerer deutscher Stämme zu einem Unterthansverbande unter der souveränen preußischen Dynastie macht doch wohl noch kein Volk.” Insofern unter Volk ein stammverwandtes, eine Nation, verstanden werden kann, hat es allerdings kein preußisches Volk gegeben, wie im Grunde auch kein britisches wegen der Iren und kein französisches wegen der Elsässer und Anderer; aber ein Volk, d. h. eine Gesellschaft von preußischen Staatsbürgern hat es allerdings gegeben, und allerdings macht die Dynastie sie zu einem Staatsverbande, wie der Papst alle Katholiken zu einer großen einigen Kirchengemeinde machte. “Wir sind”, sagt die Adresse, “keine Preußen mehr, weil wir keine Unterthanen des absoluten preußischen Königs mehr sind, und können es ohne alle Bedingungen einer vernünftigen Bestimmung und zum Gefallen der Weiterregierung unserer Dynastie nicht mehr sein wollen. – Möge der Reichsverweser verantwortlich oder unverantwortlich ernannt sein, mag er auch neben seiner Haupteigenschaft ein tüchtiger Mann, als Mann des Vertrauens der ganzen deutschen Nation, auch die noch haben, zufällig ein österreichischer Prinz zu sein: als solcher ist er nicht gewählt worden; wir huldigen ihm allein als tüchtigem, edlem Menschen; allein, weil er die Idee der Einheit Deutschlands verkörpert und somit der erste, feste Punkt ist in dem Begründungsbau unserer Gesammtfreiheit.” Das klingt immer noch so, als wenn sich die Adressanten nur nach einem größeren Staate,
nach einem Gesammtstaate, sehnten. Sie sind sich darüber nicht klar, daß es weniger die “Gesammtfreiheit”, als die Freiheit vom Gesinnungszwange ist, was sie dahin bringt, der Dynastie (d. h. dem Staate) ihren Abfall und dem Reiche ihre Sympathie zu erklären.
(1) Dieser Aufsatz, verfaßt Ende August in Berlin, erschien am 12. September 1848 in der Nr. 211 des Journals des oesterreichischen Lloyd, Triest 1848
zurück zur Übersicht AUTO: Nr. 10
|