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Arthur Janov: Der anarchiefähige Mensch
(Kapitel XV [„Das neue Bewußtsein – der Primärmensch“] des Buches „Das neue Bewußtsein. Das Hauptwerk des Begründers der Primärtherapie“, S. Fischer Verlag
Frankfurt am Main 1977)
[...] Alle bislang aufgeführten Beobachtungen, Forschungsergebnisse und theoretischen Aspekte führen uns zu einer zentralen Schlußfolgerung: Dem Menschen steht jetzt eine neue
Bewußtseinsqualität zur Verfügung, ein Bewußtsein, das in den Jahrtausenden der überlieferten Geschichte der Menschheit nicht erreichbar war. Nicht, daß der Mensch dieses Bewußtseins früher nicht
fähig gewesen wäre. Nur haben die Schmerzen seines täglichen Lebens sein normales Bewußtsein versiegelt und ihn einem falschen Bewußtsein überlassen. Ich glaube, dieses neue Primärbewußtsein ist die
einzige Hoffnung für den Menschen, wenn er überleben soll; denn unsere sozialen Institutionen sind auf neurotischem Bewußtsein aufgebaut – und diese Institutionen unterdrücken das Fühlen,
lassen den Menschen weiterhin neurotisch sein und führen die Gesellschaften zur Selbstzerstörung.
Primärbewußtsein bedeutet das Ende für neurotische Spannung und für die zahlreichen Leiden, die daraus resultieren. Es bedeutet eine Gesellschaft mit einem geringeren Bedarf
an Drogen, Mediziner und Krankenhäuser und einen erheblich reduzierten Bedarf an Gefängnissen. Es bedeutet nicht nur weniger Verbrechen, sondern auch die Beseitigung des Bedürfnisses nach Drogen, das
Ursache für so viele Verbrechen ist. Es bedeutet das Ende für Alkoholismus und all die damit einhergehenden Probleme wie Verkehrstote, gescheiterte Ehen, Grausamkeit gegenüber Kindern,
Gewaltverbrechen und schulisches sowie berufliches Versagen.
Primärbewußtsein bedeutet mit Sicherheit das Ende für Kriege, denn niemand, der erkannt hat, daß sein Körper ihm gehört, wird es zulassen, daß irgendeine abstrakte Macht
diesen Körper Tausende von Meilen weit verschifft, damit er verkrüppelt oder getötet werde. Und der Primärmensch ist unfähig, anderen Menschen Gewalt anzutun. Da er selbst Schmerz erfahren hat, fühlt
er, wenn andere Schmerz erleiden, und kann anderen keinen Schmerz zufügen. Nur der neurotische Mensch fügt anderen Menschen, insbesondere seinen Kindern, Schmerz zu, weil er unbefriedigte Bedürfnisse
hat, und diese Bedürfnisse setzen sich über die aller anderen hinweg.
Primärbewußtsein ist das, was den Primärmenschen auszeichnet; das eine bedingt das andere. Und der Primärmensch ist jetzt frei; frei nicht in dem Sinne, daß er außerhalb
seiner selbst viele Alternativen hätte, sondern frei von der Tyrannei seiner Neurose; frei von den Schmerzen, die ihn dazu gebracht haben, unkontrolliert zu handeln; frei von unerklärlichen
Symptomen, die ihn mit Kopfschmerzen, Allergien, Magen- und Darmgeschwüren, Asthma und all den anderen psychisch bedingten körperlichen Symptomen ans Bett gefesselt haben. Primärbewußtsein ist die
einzige Freiheit, denn ohne es hat jede äußerliche Freiheit wenig Bedeutung. Und mit ihm wird der Primärmensch Institutionen erschaffen, die die Wahlfreiheit ermöglichen und fördern, Institutionen,
die Bedürfnisse befriedigen statt sie auszubeuten. Wirkliche Freiheit bedeutet nicht mehr Kampf um symbolische Entscheidungen (wie es die Freiheit, immer mehr Geld zu machen, ist), sondern die
Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse zu fühlen und sie befriedigen zu können.
Primärbewußtsein bedeutet erheblich vertiefte soziale Beziehungen. Primärmenschen drängen ihre Probleme anderen Menschen nicht auf. Sie explodieren nicht bei den
belanglosesten und nichtigsten Ereignissen, noch verschieben sie alte Feindseligkeiten und Ängste von der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Primärmensch stellt keine unrealen Erwartungen
(“Mami” und “Papi”) an seinen Ehepartner oder an seine Freunde und bricht mithin nicht zusammen, wenn diese neurotischen Erwartungen nicht erfüllt werden.
Sex ist für ihn ein schönes, mit wechselseitigem Gefühl verbundenes Erlebnis und nicht ein Symbol für Eroberung, Maskulinität, Virilität und dergleichen. Der Primärmensch, der
fähig ist, seine Gefühle zu erleben, kann Freude fühlen und lieben, einfach weil er fühlen kann. Sein Leben hat eine neue Dimension, nämlich die Schlüsseldimension, die das Leben lebenswert macht
– Gefühl. Er kann fühlen, ob er geliebt wird, und kann wirklich auf andere eingehen. Der Neurotiker geht auf andere nur symbolisch ein – er projiziert seine Bedürfnisse und Schmerzen auf
andere und geht dann darauf ein, das heißt in umfassendem Sinne nur auf sich selbst.
Frauen, die ihren alten Urschmerz aus dem Körper verbannt haben, geben ihren Kindern die beste Chance für das Leben, denn sie werden natürlich geboren, ohne Drogen (eine Frau,
die ihr Leben erleben möchte, würde eine medikamentöse Betäubung nicht zulassen), im richtigen Rhythmus und zum richtigen Zeitpunkt. Sie hat einen gesunden Körper, um den Fetus zu ernähren, da sie
nicht raucht, sich gesund ernährt, keine Medikamente einnimmt und frei von chronischen Ängsten ist. Sie hat genügend Milch, um ihr Kind so lange zu nähren, wie es das Bedürfnis danach hat; und sie
wird nicht unter Spannungen leiden, die den Nahrungsquell des Säuglings vertrocknen lassen. Sie ist automatisch freundlich und still im Umgang mit ihrem Neugeborenen, weil sie nicht von Spannung
gehetzt sein wird. Da sie ihre eigenen Bedürfnisse gefühlt hat, braucht sie von ihrem Kind nicht davonzulaufen, um Befriedigung dieser alten Bedürfnisse zu suchen. Sie bekommt das Bab ybewußt, wenn
sie dazu bereit ist, und nicht zufällig, wie es bei Neurotikern oft der Fall ist. Da sie ihren Körper zurückgewonnen hat, ist sie voll und ganz sexuell, und das wiederum führt zu einer besseren Ehe,
weniger Untreue, Eifersucht und endlosen Streitereien über Sex.
Das wahre Vergnügen an Sex läßt sich nicht zu Papier bringen; wenige Frauen haben es erlebt, und wenn sie (und auch Männer) es entdecken, werden ihre Leben reicher. Und
erfüllte sexuelle Beziehungen sind das Ende der Promiskuität, der Bemühungen, via Sex irgend etwas zu bekommen. Jetzt besteht die Möglichkeit, einen Menschen zu wählen, der wirklich befriedigend sein
kann.
Primärbewußtsein bedeutet, in der Lage zu sein, einen Partner zu wählen, der Gefährte ist und nicht Mutter- oder Vaterersatz; deshalb läßt sich wirkliche Zufriedenheit
erlangen, ohne den ständigen Kampf, den Partner in etwas umzuwandeln, was man braucht. Neurotiker wählen entsprechend ihren Neurosen und müssen so notgedrungen unbefriedigt bleiben. Die volle
Kenntnis der eigenen Person ermöglicht es, ungehindert jemanden zu wählen, der einem selbst wirklich entspricht. Der Primärmensch schläft besser und ist ausgeruhter. Deshalb wird er gesünder sein und
produktiver und erfolgreicher in dem, was er macht. Er ist daher gegenüber seinem Partner und gegenüber seinen Kindern weniger launisch. Er leidet nicht unter regelmäßig wiederkehrenden Alpträumen
und Schmerzen, die letztlich zu einem frühen Tod führen werden. Er macht keine Dinge, die sein Ende beschleunigen, wie etwa Trinken, Rauchen, Pillenschlucken. Er leidet nicht jahrelang an Lungen-
oder Halskrebs, weil er rauchte und damit nicht aufhören konnte, wie sehr er sich auch bemühte; noch leidet er infolge übermäßigen Trinkens an Leberzirrhose. Er leidet nicht ein Leben lang unter
seiner Fettleibigkeit, nur weil er nicht aufhören konnte zu essen. Er ist endlich von seinen Zwängen befreit, weil er von seinem Urschmerz befreit ist.
Der Primärmensch wird uns Erkenntnisse über eine längere Lebenserwartung vermitteln. Wir werden erfahren, wie lange der Mensch eigentlich leben sollte, und meine Vermutung
läuft darauf hinaus, daß unsere Patienten, unter ansonsten gleichen Bedingungen, über hundert Jahre alt werden. Ich glaube nicht, daß irgend etwas daran utopisch ist.
*Wir verfügen über die Methoden, mit Hilfe derer wir den Primärmenschen hervorbringen können. Er ist keine dem Kopf entsprungene idealistische Vorstellung. Es gibt ihn
wirklich. Mit einer erheblich reduzierten Stoffwechselrate, mit weniger überflüssiger Gehirnaktivität verbrennt der Primärmensch nicht die Energie, die er sonst verbrennen würde. Sein Hormonsystem,
das endlich harmonisch arbeitet, erzeugt keine hormonell bedingten Krankheiten mehr, die oft zu einem frühen Tod geführt haben (Diabetis ist ein Beispiel für viele).
Der Primärmensch agiert nicht mehr aufgrund von Verdrängungen, er ist nicht mehr moralistisch. Er kann andere gewähren lassen, und wenn andere sich falsch verhalten oder sich
antisozial benehmen, schreit er nicht gleich automatisch nach der Todesstrafe oder nach langer Gefangnisstrafe. Er bemüht sich um Verständnis, und antisoziales Verhalten, das er beobachtet, ist ihm
in den meisten Fällen verständlich. Er braucht nur einige Details über die Verbrechen zu lesen, beispielsweise über einen Lustmord, um zu verstehen, was falsch gelaufen ist und was getan werden muß.
Er gibt sich nicht zufrieden mit abgegriffenen Klischees, Slogans, leeren politischen Versprechungen oder persönlichen Beteuerungen von Psychopathen. Weil er nicht von alten Bedürfnissen belästigt
wird, ist sein größtes Verlangen, allein gelassen und nicht ausgebeutet zu werden. Desgleichen würde er auch andere nicht ausbeuten wollen.
Ich glaube, daß der Primärmensch im wesentlichen anarchistisch ist. Wenige von denen, die ich habe beobachten können, engagieren sich politisch; das gilt auch für diejenigen,
die früher einmal politisch engagiert waren. Sie wollen das Leben anderer Menschen nicht kontrollieren und haben deshalb kaum politische Ambitionen, ja, sie haben generell wenig Ambitionen, mit
Ausnahme der einen – ein Leben in Frieden zu leben. Ich glaube, daß Anarchie nur für Neurotiker Chaos bedeutet; für Neurotiker, die ihre eigenen Wünsche hinter sich gelassen haben und die
letztlich tun werden, was neurotisch und dem sozialen Interesse entgegengesetzt ist.
Auch hier wieder zeigt sich die Dialektik: Diejenigen, die individualistisch sind, handeln zum Besten der Gemeinschaft; sie wollen für sich und die Menschheit das Beste, weil
sie jetzt voll bewußt und menschlich sind. Zum Wohl der Gemeinschaft handeln heißt, andere nicht mehr dominieren müssen – Kindern gegenüber seine Macht demonstrieren oder Frauen erobern, um
seine Männlichkeit zur Schau zu stellen, oder zu viele Kinder auf die Welt setzen, um so seine Virilität unter Beweis zu stellen. Und letzteres würde im Endeffekt auch die Bevölkerungsdichte
reduzieren und somit all die sozialen Probleme lindern, die heute infolge der Überbevölkerung auftreten – Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelknappheit, Schwund der natürlichen Ressourcen.
Der Primärmensch hat Freude an Schönheit. Er würde nicht des Profits willen Wälder abholzen, noch würde er mit seinem Abfall die Meere verschmutzen. Er hat durch seine
Erfahrung in der Therapie gelernt, alles Natürliche zu respektieren, er hat Achtung vor der Natur. Er wird nicht aus neurotischen Gründen viele Kinder in die Welt setzen und, wichtiger noch, nicht
unter der Unfähigkeit leiden, so viele Kinder zu lieben. Er wird niemandem zugestehen, sein Leben und die Anzahl seiner Kinder zu diktieren.
Wenn wir davon ausgehen, daß die Lebensfähigsten überleben werden, dann müßte der Primärmensch die besten Überlebenschancen haben, da sein System gegenüber Streß am
widerstandsfähigsten ist. Er ist nicht mehr schnell überlastet und wird unter Belastung nicht zusammenbrechen. Sein Bewußtsein ist organismisch, und das ist mehr als reine Wortspielerei. Denn er hat
nicht nur eine neue Bewußtheit, sondern auch ein neues Körpersystem, in dem sich dieser organismische Bewußtseinszustand widerspiegelt. Er hat nicht lediglich seine Meinung über bestimmte Dinge
geändert , er hat – kurz gesagt – sein ganzes System verändert; das zeigt sich in der Veränderung der vitalen Körperfunktionen, in seiner Körperhaltung, seinem Gang, seiner Sprache,
seinen Bewegungen und in seiner körperlichen Freiheit. Dieses neue Bewußtsein dringt in jede Zeile vor; ich vermute, daß der Primärmensch von katastrophalen Leiden verschont bleibt, wie
beispielsweise von Krebs, der meiner Meinung nach auf unglaublichen Schmerz auf zellularer Ebene hinweist.
Der Mensch muß mehr tun, als nur seine Einstellung ändern, deshalb sind auch Publikationen, die ihn beschwören, er müsse seine Prioritäten verlagern, wenn er überleben wolle,
großenteils sinnlos. Einstellungen sind eine Widerspiegelung eines Seinszustands oder eines Bewußtseinszustands; und den zu verändern, ist wirklich vordringlich.
Mit der Entdeckung, daß wir in der Lage sind, Begebenheiten, die sich um die Zeit der Geburt herum ereigneten, wiederzuerleben, haben wir die traditionelle Auffassung vom
Bewußtsein erheblich erweitert, denn wir sehen jetzt, daß Bewußtsein eine Sache mehrerer Ebenen ist und daß es möglich ist, unser Bewußtsein bis in die tiefsten Tiefen unseres Gehirns und Geistes zu
erweitern. Ein Bewußtsein ohne diesen Zugang ist nur partiell. Wir können nicht mehr von einem ausschließlich neokortikalen Bewußtsein sprechen, denn wir wissen jetzt, daß ein derartiges Bewußtsein
nur die Spitze eines Eisbergs ist und daß das Denken und Verhalten des Menschen durch Ereignisse beeinflußt und gelenkt wird, die in unseren Bewußtseinssystemen weit unterhalb des Neokortex
existieren. Durch eine Veränderung der Einstellungen ändert man allenfalls die äußerste Bewußtseinsebene, und das hat wenig mit tiefgreifenden Veränderungen des Verhaltens und der Grundhaltung zu tun.
Einer der großen Mängel an der Marxschen Literatur, die in soziologischer Hinsicht so profund ist, ist eine Auseinandersetzung mit dem Bewußtsein – oder anders gesagt,
mit dem Gefühl. Die Marxsche Auffassung war die, daß das menschliche Bewußtsein das Ergebnis der materiellen Lebensbedingungen ist, insbesondere insofern diese Bedingungen seine Beziehung zu den
Produktionsmitteln widerspiegeln – ob er Ausbeuter oder Ausgebeuteter ist. Ich bin jedoch der Auffassung, daß der Mensch auch die Bedingungen für sein Leben erschafft, seine sozialen Systeme
und Institutionen; und der Mensch verändert seine äußere Umwelt tatkräftig, indem er Berge abträgt, die Seen und Flüsse umleitet, Wälder abholzt und überall Zementböden schafft, die die Natur
verdrängen. Der neurotische Mensch wird meiner Ansicht nach immer so verfahren, ungeachtet des sozialen Systems, in dem er lebt. Und mag das soziale System, das für ihn von weitblickenden Menschen
errichtet wurde, auch noch so gerecht sein, er wird nach wie vor dazu neigen, außerhalb seiner selbst eine Widerspiegelung dieser Neurose zu schaffen. Er wird sich noch immer weigern, individuelle
Vorrechte und Privilegien zugunsten des Allgemeinwohls aufzugeben, weil er unbefriedigte Bedürfnisse in sich herumträgt. Die Umwelt, die der neurotische Mensch errichtet, beispielsweise die Häuser
und Gebäude, die er baut, wirken sich auf sein Bewußtsein aus. Und so ist er in einem Circulus vitiosus gefangen, in dem er eben jene Bedingungen erschafft, die seine Neurose aufrechterhalten und
seinen Bedürfnissen nicht gerecht werden – weil er den Kontakt zu seinen Bedürfnissen verloren hat.
In einer komplexen Gesellschaft heißt es nicht mehr entweder – oder. Nicht das Bewußtsein erzeugt soziale Institutionen, noch erzeugen soziale Institutionen ein
Bewußtsein; beide befinden sich vielmehr in einem permanenten Zustand dialektischer Interaktion – sie durchdringen einander, schaffen gemeinsam ständig neue Synthesen. Ich hielt kürzlich an
einer Universität im Ausland Vorlesungen und stellte fest, daß diese Universität eine unmittelbare Widerspiegelung der Menschen war, denen ich dort begegnete – steril und rigide. Die Gebäude
waren nur Glas und gleißend weiße Wände, nicht eine einzige Pflanze, keine weichen Strukturen, nichts wirklich Menschliches. Alles war ausschließlich nach rationellen Gesichtspunkten errichtet, bar
jeglicher Menschlichkeit. Und die Studenten leben in dieser Umwelt; ihr Bewußtsein hat sie erschaffen, und ihr Bewußtsein wird dadurch beeinflußt. Diese Interaktion hält die neurotische Struktur
aufrecht.
[Ich glaube, das Wichtigste an diesem Buch ist die Übereinstimmung unserer an Primärpatienten angestellten Beobachtungen mit den jüngsten Arbeiten auf dem Gebiet der
Neurologie. Man denke beispielsweise an die Auffassung spezifischer und nichtspezifischer Systeme im Gehirn. Wir wissen aufgrund unserer Beobachtungen, daß die Energie nichtverknüpfter Gefühle
durchdringt, um in unserem Körper die Empfindung von Spannung zu erzeugen, während die Verknüpfung blockiert ist – der direkte Weg, mittels dessen die Spaltung aufrechterhalten wird. Aber das
Konzept eines doppelseitigen Systems hilft erklären, wie das System auf allgemeine Weise mobilisiert werden kann, während die spezifischen Verknüpfungen nicht zustande kommen. So fühlen wir uns
angespannt und wissen nicht, warum. Oder man nehme die ursprüngliche primärtheoretische Hypothese über die Spaltung: Wir haben jetzt sehr viel detailliertere Kenntnisse über die Mechanismen dieser
Spaltung. Wir wissen, daß Schmerz geschleust wird; und weiter, daß Schmerz auf verschiedenen Ebenen oder innerhalb verschiedener Systeme geschleust wird. Ähnlich weisen unsere Beobachtungen darauf
hin, daß Patienten auf drei verschiedenen Ebenen fühlen, und es ist von entscheidender Bedeutung, daß die neurologische Forschung unsere Beobachtungen zu bestätigen scheint. Die Tatsache, daß drei
verschiedene Systeme der Schmerzschleusung zu existieren scheinen, bekräftigt unser Konzept der drei Bewußtseinsebenen. Nicht, daß wir, nachdem wir entsprechende Fachliteratur gelesen haben, einfach
“beschlossen” hätten, es gebe drei Bewußtseinsebenen. Unsere Beobachtungen haben uns vielmehr immer und immer wieder zu dieser Schlußfolgerung geführt, und die Forschungsergebnisse haben
unser Denken in dieser Angelegenheit unterstützt und geschärft.]
Ich glaube, daß es uns zum erstenmal gelungen ist, den Menschen bis in seine tiefsten Tiefen zu öffnen und so seine wahre Natur zu entdecken. Und wir haben dabei festgestellt,
daß er von Grund aus weder aggressiv noch zornig oder ängstlich ist, noch voller Dämonen und Teufel steckt, die nur darauf warten, hervorzuspringen. Wir haben den Menschen mit einem Teil seines
Gehirns in Kontakt bringen können, das bereits vor Jahrmillionen existierte, haben ihn mit seinem animalischen oder triebhaften Selbst in Kontakt gebracht und dabei gelernt, daß er nicht wirklich ein
Mörder ist und gesellschaftlicher Kontrolle bedarf. Er ist weder raubgierig noch habsüchtig; er ist nicht von vornherein leistungsorientiert.
Wir sind in wenigen Jahren in die tiefsten Tiefen vorgedrungen und haben entdeckt, daß der Primärmensch ein sehr einfacher Geselle ist, weder ehrgeizig noch übermäßig
produktiv. Er ist nicht grundlegend angespannt oder zwanghaft. Er hat nur wenige Wünsche. Er ist jemand, der Schönheit und Natur liebt, mit seinen Mitmenschen gut auskommen kann, die Tierwelt
respektiert und hochgradig individualistisch ist; er ist kein Freund von Clubs und Organisationen, er gehört keinen politischen Gruppen an und hängt auch sonst nicht ständig bei irgendwelchen
Veranstaltungen herum. Er ist zielstrebig und tut, was getan werden muß, ohne großen Wirbel zu machen. Er wird sich keinem rigiden System unterordnen, das über sein Leben bestimmt. Er läßt sich nicht
durch religiöse Vorschriften leiten – zum Beispiel, was er an welchem Tag zu essen habe –, er läßt sich von seinen Gefühlen leiten. Er ist bestimmt kein extrem geselliges Wesen. Und all
das findet statt, und das sei nochmals betont, ohne daß ihm irgendwelche Vorstellungen eingeimpft werden. Er verliert seine religiösen Vorstellungen, ohne daß Religion in seiner Therapie auch nur mit
einem einzigen Wort erwähnt würde. Und das zeigt, was es mit wahrer Erziehung auf sich hat – wir lernen von innen nach außen und nicht umgekehrt. Und diese Erfahrung führt den Primärmenschen
dahin, die Art erzieherischer Umwelt zu schaffen, in der ein solches reales Leben stattfindet. Um Primärbewußtsein setzt der Flut von Regeln und Gesetzen und dem Bedürfnis, geführt zu werden, ein
Ende. Primärmenschen können nicht betrügen, weil sie nicht in sich gespalten sind und nicht doppelzüngig sein können. Man braucht ihnen nicht zu sagen, wie sie zu leben haben, wie sie kooperieren und
mit ihren Mitmenschen auskommen sollen. Primärbewußtsein bedeutet, ein eingebautes Gewissen und eine besondere Moral zu haben, die nicht von außen übernommen ist. Gefühl bedeutet, Rücksicht auf die
Menschheit zu nehmen. Es besteht kein Bedarf für das Konzept eines Überich, das dem nihilistischen Menschen eingeimpft werden muß. Im Gegenteil, fühlend aufzuwachsen verhindert das gerade; Gefühle
diktieren ganz natürlich ein moralisches Verhalten, so wie verdrängte Gefühle unweigerlich zu unmoralischem Verhalten führen. Der Primärmensch braucht keine Meister, keine Religion, auf die er seinen
Glauben ausrichtet. Er hat sich selbst, und das ist ihm genug.
Nachdem wir inzwischen Hunderte von Menschen beobachtet haben, die zu den “Antipoden des Geistes” (um Aldous Huxley zu zitieren) gereist sind, können wir mit
einiger Genauigkeit sagen, was “der Mensch” ist. Und er ist nichts von dem, was wir erwartet haben. Er ist nicht böse, wollüstig oder selbstisch. Wenn er seine frühen Bedürfnisse gefühlt
hat, braucht er die als Kind erlittenen Entbehrungen nicht mehr symbolisch wettzumachen. Er fühlt sich nicht grundlegend überlegen oder unterlegen. Das ist ihm fremd. Das sind keine echten Gefühle.
Er fühlt einfach sich selbst – nicht eine Beziehung zu anderen, anhand derer er dieses Selbst bemißt.
Der Primärmensch hat sicherlich keine Machtbedürfnisse, wie Alfred Adler sie postulierte. Im Gegenteil. Wir haben bei fortgeschrittenen Patienten beobachten können, daß Macht
über irgend jemanden oder über irgend etwas das Letzte ist, was sie wollten. Nur der Machtlose braucht Macht, und hat ein Mensch seine frühe Hilflosigkeit und Machtlosigkeit gegenüber seinen Eltern
erst einmal zutiefst gefühlt, dann hat er nach symbolischer Macht über andere kein Bedürfnis mehr. Wichtig an all dem ist, daß wir nicht über irgendeine utopische Vorstellung vom Menschen
theoretisieren oder philosophieren. Wir stellen keine Ableitungen, keine Schlußfolgerungen her, wie es die frühen psychologischen Theoretiker tun mußten. Wir haben Beobachtungen angestellt, und
unsere Patienten haben sich selbst beobachtet, und wir sind aufgrund unserer und ihrer Erfahrungen zu unseren Ergebnissen gelangt.
Wir brauchen nicht über den inneren Schatten des Menschen zu theoretisieren, der in seinen Träumen hervorspringt, ihn zu verhexen. Wir sehen, daß Träume, sofern Gefühle einmal
gefühlt sind, rein sind und nicht voll all jener Dämonen stecken, die wir im “Unbewußten” vermutet hatten.
Unsere bisherigen Auffassungen von der grundlegenden Natur des Menschen entstammen Beobachtungen an Neurosen – einem so weit verbreiteten Phänomen, daß es bereits etwas
Grundlegendes über den Menschen selbst besagt. Und angesichts einer ganzen Nation von Individuen, die im Konkurrenzkampf miteinander stehen, sind wir zu der Annahme gelangt, es müsse sich dabei um
etwas Endogenes handeln. Oder wenn jemand durchdreht und gewalttätig wird, so haben wir daraus den Schluß gezogen, ohne gesellschaftliche Kontrolle seien wir dazu alle in der Lage, obwohl es sich in
Wirklichkeit so verhält, daß gerade die Kontrolle der Gefühle frühe Wut gespeichert hat und letztlich zu einem Überlaufen im Erwachsenenalter führt. Was zum Vorschein kommt, wenn Menschen die
Kontrolle verlieren, ist keineswegs etwas Grundlegendes, sondern vielmehr das Agieren spezifischer Gefühle, zu denen man nicht vorzudringen vermag; es sind die grundlegenden Schmerzen, die nie
gefühlt und voll erlebt wurden. Und wenn am Unbewußten des Menschen irgend etwas grundlegend ist, so ist es das Reservoir dort gespeicherter Schmerzen. Weil der Mensch nicht gelernt hat, sein Agieren
zu durchdringen und tiefer zu gehen (aus Angst vor den dort lauernden Dämonen), haben wir sein neurotisches Verhalten als angeboren interpretiert. Wir haben es zugedeckt mit Drogen, Bestätigungen,
Zwängen und Ablenkungen. Wahres menschliches Bewußtsein hat unglaubliche Kraft. Es kann so gut wie alles wissen, so daß dem Menschen nahezu sein gesamtes Verhalten verständlich wird – welcher
Art sozialen Kontakt man hat, warum man übermäßig trinkt oder ißt, warum man dieses oder jenes träumt, warum man Kopf- oder Magenschmerzen hat etc. Es befähigt den Menschen, Realitäten außerhalb
seiner selbst klar wahrzunehmen, so daß er die Dinge instinktiv erfaßt – sei es Politik, Religion und deren Funktion in der Gesellschaft, Erziehung oder die richtige Behandlung von Kindern.
Bewußtsein führt zu einem völlig neuen Geschmack, zu einer Fähigkeit, Harmonie zu sehen, so daß man sich auf neue Weise kleidet und Kunst als das versteht, was sie ist. Primärbewußtsein erzeugt eine
Integration des Körpers, so daß man Sport letztlich spielerisch betreiben und daran Freude haben kann. Auf Partys bin ich zum Beispiel immer wieder erstaunt, daß alle Institutsangehörigen so gut
tanzen; bei vielen von ihnen war das zu Beginn ihrer Therapie keineswegs der Fall. Man mag sagen, das sei kein sonderlich gewichtiger Beitrag, aber all das zusammen summiert sich zu einem
erfreulicheren, unmittelbaren Leben.
Die wahre Kraft vollen Bewußtseins liegt darin, daß man ein bewußt gelenktes, intelligentes Leben führt, so daß man nicht den erstbesten Mann oder die erstbeste Frau heiratet
oder sich nicht aufgrund alter, unbewußter Bedürfnisse bei einem Menschen engagiert, der im Grunde gar nicht zu einem paßt. Es ist die Kraft, die verhindert, daß man sich übernimmt, daß man an
Aufgaben herangeht, die einen überfordern, oder beruflich Stellungen annimmt, die die eigenen Fähigkeiten überschreiten. Ein volles Bewußtsein hindert den Menschen daran, in dem Bemühen, alte
Bedürfnisse – wie zum Beispiel das Bedürfnis nach Prestige, Ruhm oder Erfolg – zu befriedigen, den eigenen Tod zu beschleunigen.
Die wahre Kraft vollen Primärbewußtseins liegt darin, daß man Zugang zu sich selbst hat, so daß man in Situationen, in denen man bestürzt oder sehr ängstlich ist, nicht
hilflos dasteht, sondern etwas unternehmen kann. Der Primärmensch braucht seine Hände nicht mehr vor Verzweiflung zu ringen, weil er von unerklärlicher Angst erfüllt ist. Wenn das Kind eines
Primärmenschen Schwierigkeiten oder Probleme hat, ist er nicht mehr ratlos, was zu tun sei. Normalerweise versteht er das Problem und weiß, wie es angegangen werden muß. Er kann seinem Kind wirklich
helfen. So gesehen, hat der Primärmensch wirklich die Kontrolle über sein Leben und nicht umgekehrt das Leben Kontrolle über ihn.
Der Primärmensch weiß um seine ihm innewohnende Einsamkeit. Er sucht nicht verzweifelt nach sozialen Kontakten, um sich selbst zu entfliehen. Er braucht vor dem Selbst, mit
dem er völlig vertraut ist und mit dem er sich wohl fühlt, nicht mehr davonzulaufen. Kein Schmerz hält ihn unnötig in Bewegung. Und er versucht nicht zu bekommen; er weiß, daß auf dieser Welt wenig
mehr zu bekommen ist als Liebe und Vergnügen, und er versucht nicht, symbolisch Erfolg, Glück, Ruhm, Prestige und all die anderen symbolischen Ziele zu erreichen. Er sucht nicht nach einem Sinn
seines Lebens; er verstrickt sich nicht in tiefer philosophischer Suche nach Erklärungen für sein eigenes Elend (wie Neurotiker es machen), weil sein Elend ein Ende gefunden hat.
Nichts interessiert den Primärmenschen weniger als Philosophie und Ideologie. Er ist nicht mehr intellektuell; er ist vielmehr intelligent. Und diese Intelligenz hilft ihm, in
einer unrealen Welt zu überleben, denn der Primärmensch kann in der heutigen Welt unmöglich Erfüllung finden; doch es ist die Welt, in der er lebt, und er macht das Beste daraus, wissend, wie schwer
es ist, in der Gesellschaft tiefgreifende Veränderungen zu bewirken. Er tut, was er kann, um sich selbst zu ändern, denn das vermag er. Er ist der Gesellschaft, ihren Werten und Zielen nicht
verfallen; er nimmt von ihr vielmehr, was immer er kann, wann immer er es kann, ohne sich zu kompromittieren – denn sich kompromittieren ist ihm nicht mehr möglich. Sein Interesse ist
hauptsächlich darauf gerichtet, Schönheit zu suchen und sich daran zu erfreuen.
Primärbewußtsein bedeutet, nicht mehr von irrationalen Ängsten und Phobien geplagt sein, die das Leben eines Menschen oft drastisch einengen. Einige Patienten waren vor der
Therapie nicht mehr fähig, ihr Haus oder ihre Wohnung zu verlassen. Und der Primärmensch hat für den Rest seines Lebens keine irrationalen Vorstellungen mehr, so daß er nicht unzählige Stunden damit
verbringt, sich über mystische Phänomene oder Geschehnisse im All Gedanken zu machen. Er ist es zufrieden, zu wissen, was real ist. Er weiß, daß seine Zeit hier auf der Erde im Jetzt die einzige Zeit
im Leben ist, und er möchte daraus das Beste machen; folglich beschäftigt er sich nicht mit einem Leben nach dem Tod oder mit Reinkarnation.
Nachdem er seinen frühen Zusammenprall mit dem Tod bei der Geburt gefühlt hat, wird er nicht von irrationalen Ängsten vor dem Tod gequält. Nicht daß er sterben wollte oder daß
es ihm einerlei wäre, ob er morgen stirbt, wie es bei Neurotikern oft der Fall ist; er schätzt das Leben hoch und möchte möglichst lange daran teilhaben. Das Leben ist für ihn nicht mehr eine
permanente Qual, wie es früher der Fall war. Er hat die Fähigkeit gewonnen, voll zu erleben, und kennt die Tiefen der Freude, wie er sie früher nie gekannt hat, und die Tatsache, daß er diesen
inneren Zugang hat, bedeutet ein Ende der periodischen Anfälle von Depression, die nichts anderes ist als die Verdrängung vieler unerklärlicher Schmerzen.
Wir sehen also, welch breites Spektrum volles Bewußtsein mit sich bringt. Es ist nicht eine Frage intensiveren Erkenntnis- oder Wahrnehmungsvermögens, sondern eine Frage des
inneren Zugangs; und das ist in meinen Augen ein entscheidender Punkt, denn bislang hatte man angenommen, man könne ein erweitertes Bewußtsein haben und gleichwohl auch weiterhin deprimiert oder
ängstlich sein, ohne daß beides miteinander in Beziehung stünde. Beides steht jedoch in sehr enger Beziehung zueinander, und wenn Bewußtsein Depression oder Angst nicht verhindern kann, wofür ist es
dann gut? Um das Wissen über das Universum zu erweitern? Zu welchem Zweck oder Ziel?
Primärbewußtsein bedeutet die Kraft, das eigene Leben zu retten. Wie wichtig das ist, kam mir gerade kürzlich in den Sinn, als ich von dem Herztod eines achtundfünfzigjährigen
Philosophen las, eines “Freidenkers”, der Bücher über das Bewußtsein schrieb, der, was seine Weltschau betraf, frei zu sein schien, der sich frei und gelöst gab und der aus der
akademischen Schablone ausgebrochen war. Alles, was ihm fehlte, war wahres Bewußtsein, das sein Leben gerettet hätte. Geistig hatte er sein frühes Milieu “überwunden”, gewiß, er konnte in
neuen Bahnen denken, aber er hatte nicht die Kraft, sein Leben zu retten – die wichtigste aller Kräfte.
All das oben Gesagte bedeutet für mich, daß das Bewußtsein dritter Ebene [Intellekt – nA] ungemein plastisch ist. Es kann radikal umgeordnet und verändert werden, doch
ohne eine Verzahnung mit den tieferen Ebenen wird deren permanente Aktivierung uns frühzeitig töten. Es ist bedauerlich, daß wir zu der Auffassung gelangt sind, die Durchdringung der dritten Ebene
sei irgendwie bewußtseinserweiternd. Das kommt insbesondere in den Publikationen über psychedelische Drogen zum Ausdruck.
Ein weiterer Schlüsselaspekt, auf den wir hingewiesen haben, ist der, daß Bewußtsein und Unbewußtheit noch vor der Geburt ihren Anfang haben; daß der Fetus in einer Umwelt
lebt und auf diese Umwelt reagiert, lange bevor er einem anderen menschlichen Wesen begegnet. Bewußtsein ist, kurz gesagt, nicht nur eine Frage des Lernens. Noch ist Unbewußtheit eine Sache des
Verlernens. Es ist vielmehr, um es noch einmal zu sagen, ein Seinszustand. Es umfaßt die Funktionen des Körpers in ihrer Wechselbeziehung zum Gehirn. Es umfaßt, was das Gesamtsystem erlebt hat, und
nicht nur die Fakten und Wahrnehmungen, die dem Gehirn zugeführt wurden. Folglich müssen wir, um unser volles Bewußtsein wiederzuerlangen, jene fernen Begebenheiten der ersten Minuten unseres Lebens
erleben.
Es muß als unangemessene Schlußfolgerung erscheinen, Bewußtsein auf Sexualität und sexuelle Funktionsweisen zu beziehen, insbesondere wenn wir sagen, daß das Wiedererlangen
einer bestimmten Bewußtseinsebene aus der Zeit während und unmittelbar vor der Geburt für die sexuelle Befreiung ausschlaggebend ist, aber unsere Beobachtungen führen uns zu keinen anderen
Schlußfolgerungen. Bewußt sein bedeutet, sexuell sein, und umgekehrt. Im primärtheoretischen Sinne bewußt sein heißt, jene Bewußtseinsebene wiedererlangt zu haben, die Körperfunktionen vermittelt und
die uns die Kontrolle über unseren Körper gibt. Auf diese Weise wird ein breites Spektrum sexueller Probleme gelöst – von Frigidität bis zu frühzeitiger Ejakulation. Und Primärbewußtsein
bedeutet ein Ende sexueller Perversionen, die nur dürftig getarnte Primärsymbole sind – symbolisches Agieren von Begebenheiten der Vergangenheit in der Gegenwart. Es ist eine große
Erleichterung, man selbst zu sein, nicht mehr getrieben zu werden, zwanghaft pornographische Filme anzusehen, pornographische Bücher zu lesen, in der Öffentlichkeit zu masturbieren oder unter
irgendwelchen anderen Verhaltenszwängen zu stehen.
Wenn ein Mensch einen hohen gesellschaftlichen Status erlangt hat und sich gleichzeitig in bestimmten Situationen jenseits seines Verständnisvermögens oder seiner Kontrolle
kriminell verhält, so ist das ungemein erniedrigend. Das gilt insbesondere für Homosexuelle, die oft gezwungen sind, Toiletten abzugrasen, um Penisse zum Saugen zu finden. Wird er dabei von der
Polizei erwischt, ist seine Karriere und manchmal sein ganzes Leben zerstört. Die Kraft des Primärbewußtseins liegt darin, daß man nicht länger an Verhaltensweisen gebunden ist, die das eigene Leben
gefährden. Oder, wenn der Drang zu agieren da ist, gibt es eine Alternative – man kann sich hinlegen und fühlen, was dahintersteht.
Wenn ich sage, daß man nicht länger an Verhaltensweisen gebunden ist, die das eigene Leben gefährden, dann meine ich das wörtlich; man hat dann beispielsweise nicht mehr das
Bedürfnis, mit halsbrecherischem Tempo Auto zu fahren oder gar professioneller Rennfahrer zu sein. Einer unserer Patienten, der Rennfahrer war, entdeckte, daß er bei der Geburt dem Tode nahe war und
daß er Autorennen fuhr, um sich lebendig zu fühlen – das heißt, unbewußt hatte er das Bedürfnis, diese frühe Todesszene wiederherzustellen, sozusagen mit dem Tod geeignete zusammenzuprallen,
nur um einen anderen Ausgang sicherzustellen. Nachdem er die Todesnähe bei der Geburt gefühlt hatte, löste sich sein Bedürfnis, mit lebensgefährlichem Tempo zu fahren, auf. Gefühl löst symbolisches
Agieren auf. Dieser Grundsatz ist eine Binsenwahrheit, die seit der Entdeckung der Primärtherapie unverändert geblieben ist. Gefühl ist die Antithese zu neurotischer Spannung und zu neurotischem
Verhalten. Ich vermute, Außenstehenden wird das Leben fader erscheinen, wenn sie sich vorstellen, daß es in einer Primärgesellschaft keine dem Tode trotzenden Autorennen, keine berauschenden Drogen
und keinen Alkohol geben wird, doch vergessen sie, daß das Leben dann qualitativ viel reicher sein wird.Unser Konzept vom Bewußtsein bedeutet, daß wir jetzt mit Sträflingen in Gefängnissen etwas
anderes machen können, als sie allmählich verrotten zu lassen, während sie auf ihre Entlassung warten, um dann ihr nächstes Verbrechen zu begehen. Sie können wirksam behandelt werden, und da ein
erheblicher Teil der kriminellen Bevölkerung aus Drogensüchtigen besteht, läßt sich etwas ganz Konkretes machen. Gefängnisse sind ein nahezu idealer Ort (wenn wir je wirklich Gefängnisse brauchen),
um Primärtherapie zu betreiben, weil von den Gefängnisinsassen kein wirklich produktives Funktionieren gefordert wird. Sie brauchen nur ihre Zeit abzusitzen; und bei diesem Geschäft könnten sie sich
genauso gut Gesundheit einhandeln. Es wäre nicht nötig, einen ehemaligen Gefängnisinsassen durch Bewährungshelfer zu überwachen und zu kontrollieren, denn wenn er sich einer Primätherapie unterzogen
hätte und wir seine Fortschritte laufend gemessen, beobachtet und getestet hätten, dann könnten wir versichert sein, daß er sich nach seiner Freilassung sozial und nicht mehr antisozial verhalten
wird. Allein die durch Rückfälligkeit verursachten Kosten müssen gewaltig sein, insbesondere bei Alkoholikern, bei denen eine zehnmalige Strafrückfälligkeit nichts Ungewöhnliches ist. Und wir müssen
an die Sicherheit unserer Gesellschaft denken. Einen Mörder oder einen gewalttätigen Menschen wieder in die Gesellschaft zu entlassen, gefährdet uns alle. Das ist rundweg unmoralisch, da wir heute
wissen, was mit Kriminellen machbar ist. Das Werkzeug, die Instrumente dafür stehen denen, die an der Macht sind, zur Verfügung, sie brauchen sich ihrer nur zu bedienen.
Das gleiche gilt für Nervenheilanstalten. Es ist einfach kriminell, Menschen manchmal ein Leben lang in Nervenheilanstalten einzusperren und Tabletten in sie hineinzuzwingen,
um sie so unter Kontrolle zu bringen, obwohl wir über die Mittel verfügen, sie aus den Hospitälern herauszuholen und sie wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Ich erachte es als die Aufgabe und
als die moralische Verpflichtung der Psychiatrie, Primärtherapie als Behandlungsmethode für ihre Patienten ernsthaft zu überprüfen. Wenn für bestimmte Krankheiten eine geeignete Behandlung existiert,
ist es die Pflicht des Arztes, sich mit dieser Behandlungsmethode vertraut zu machen oder zumindest ihre Möglichkeiten ernsthaft zu untersuchen.
Wir haben sowohl Menschen beobachtet, die unmittelbar aus dem Gefängnis zu uns kamen, als auch Menschen, die aus Nervenheilanstalten zu uns kamen. Wir haben die tiefgreifenden
Veränderungen, die in diesen Menschen stattfanden, miterlebt und glauben, daß jedes Individuum, das sich heute in einer Nervenheilanstalt oder in einem Gefängnis aufhält, als Staatsbürger und als
Mensch dieses Recht hat. Es läßt sich nicht vermeiden, daß Primärtherapie als Wunder- oder Allheilmittel erscheint, aber sie heilt tatsächlich ein breites Spektrum von Krankheiten psychischer wie
physischer Art, weil deren Substrat Urschmerz ist.
Für mich steht fest, daß der Schmerz und der Streß, die einen Herzanfall auslösen, nach dem Anfall nicht einfach verschwinden. Sie werden den Körper permanent an seinen
schwächsten Stellen angreifen. Die einzige Versicherung gegen künftige Anfälle besteht darin, den Schmerz loszuwerden. Die einzige andere Alternative ist das, was heute in der Medizin praktiziert
wird – Drogen, um den Schmerz zu kontrollieren und zu dämpfen; Drogen, um das Blutkreislaufsystem zu öffnen, das sich gegen Schmerz kontrahiert; Drogen, um die Angst zu beschwichtigen, daß man
ein schwaches Herz hat; und Drogen für jenen Menschen, der nachts nicht schlafen kann aus lauter Angst, es könne seine letzte Nacht auf dieser Erde sein.
Es spielt keine Rolle, ob das Versagen letztlich auf eine Herzschwäche oder auf ein später im Leben auftretendes Magen- oder Darmgeschwür zurückgeht. Wenn man die Aktivierung
durch Urschmerz nicht zu beseitigen vermag, gibt es keinen anderen Ausweg als den, daß man ihn kontrolliert, und das bedeutet ein Leben lang Wachsamkeit, Ängste, Medikamente und Einschränkungen der
Aktivitäten. Nur das Bewußtsein kann den Fluß unbewußter Aktivierung anhalten, weil Bewußtsein bedeutet, daß das Unbewußte bewußt gemacht ist – und das ist in meinen Augen die einzige Bedeutung
des Bewußtseins.
Ich habe an anderer Stelle gesagt, daß neurotisch zu sein einer lebenslänglichen Verurteilung gleichkommt, und dieser Gedanke kommt mir immer wieder, wenn ich von nicht
primärtherapeutisch behandelten Menschen höre, die sich tagelang wegen Migräne-Kopfschmerzen ins Bett legen müssen, und das Jahr für Jahr, immer wieder, weil sie keine Ahnung haben, was ihren
Kopfschmerzen zugrunde liegt oder was sie selbst daran machen könnten. Sie sind wirklich hilflos und ohnmächtig; vielleicht noch schlimmer ist es, aufgrund von Anfällen Jahr für Jahr immer wieder
hospitalisiert zu werden, nicht regelmäßig zur Schule gehen und einen Beruf ausüben zu können, aufgrund der Krankheit zu sexuellen Beziehungen zum anderen Geschlecht unfähig zu sein. Derartige Leiden
ein Leben lang erdulden ist wirklich eine lebenslängliche Verurteilung. Oder Stottern: ein Leben ständiger Demütigungen führen, weil man keine sozialen Kontakte herstellen und unterhalten kann, ohne
nicht zu stottern oder ohne Grimassen zu schneiden. Die Zahl der Leidensgeschichten ist endlos, und sie alle beruhen auf einem zentralen Faktor – dem Mangel an vollem Bewußtsein.
Ich glaube, wir haben einen gewaltigen Sprung in der Entmythologisierung der grundlegenden Natur des Menschen gemacht. Wir wissen inzwischen eine Menge darüber, was ihn
körperlich wie auch seelisch krank macht, und mehr noch, wir haben eine Methode gefunden, die diese Krankheit beseitigen kann. Selbst wenn unsere Theorie über die Ursachen der Neurose vollkommen
wäre, so wäre es doch ein gewaltiger Mangel, wenn wir nichts daran ändern könnten. Glücklicherweise haben wir jedoch beides: sowohl die Kenntnis der Ursachen als auch eine Behandlungsmethode. Nicht,
daß wir alles wüßten, das wird niemand behaupten. Aber ich glaube, wir haben im Hinblick auf Diagnose, Verständnis und Heilung einen qualitativen Sprung gemacht. Der Primärmensch ist erstaunlich,
nicht weil er ein Übermensch ist, sondern weil er einfach Mensch ist.
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