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Serge Thion: Ich habe Papon nicht getötet (Dieser Aufsatz erschien zuerst in Sleipnir. Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik 5/1997)
Während des Krieges war Maurice Papon in der Verwaltung tätig. Er hatte einen wichtigen Posten bei der Präfektur der Gironde in Bordeaux. Wie alle hohen Beamte hat er in
Ausführung der von den Präfekten, die die Regierung in den Departementen vertreten, gegebenen Weisungen Befehle unterschrieben. Die Handlungen eines hohen Beamten sind mithin – via Delegierung – die
der Regierung. Man wirft ihm heute vor, den Befehl unterzeichnet zu haben, Juden, die in Bordeaux festgenommen worden waren, nach Paris, genauer gesagt nach Drancy, einem Durchgangslager bei Paris, zu schicken.
Diesen Leuten war nichts vorzuwerfen gewesen, außer daß sie Juden waren. Sich ihrer Person habhaft zu machen und sie mit Gewalt in einen Zug nach Paris zu stecken, ist ein unbestreitbares Verbrechen, ein
unerträglicher Angriff auf das Recht dieser Leute. Dieser Rechtsbruch ist vom Staat begangen worden, der sich zu dieser Zeit „der französische Staat“ nennen ließ, weil er nicht mit der Republik verwechselt
werden wollte. Dieser Staat, der Staatschef und einige seiner höheren Verantwortlichen sind nach der „Befreiung“ (übereilig) vor Gericht gestellt und verurteilt worden. Das Wort Befreiung ist natürlich
wegen seines stark ideologischen Inhalts zur damaligen Zeit in Anführungszeichen zu setzen. Wenn die Verurteilung des Vichy-Regimes nach seinem Zusammenbruch nicht radikaler, tiefer oder nachhaltiger war, dann
aufgrund der damaligen Umstände, an die nur Idioten und Ignoranten glauben, sich nicht erinnern zu müssen. Die Leute, die zwischen 1944 und 1950 an der Macht waren, hatten ihre – guten oder faulen –
Gründe, die sicher ein jeder mit der Elle seiner jeweiligen heuchlerischen „Werte“, die heutzutage allerorten blühen, beurteilen wird.
Sich 40 oder 50 Jahre nach den Ereignissen nochmals auf den ehemaligen hohen Beamten Papon, der diese Befehle unterschrieben hat, zu stürzen, ist offenkundig ein Rechtsbruch. Papon hatte
Vorgesetzte, und die Vorgesetzten – Präfekten, Minister, Ministerialbeamte – sind wegen dieser Verbrechen nicht zuerst und vor Papon verfolgt worden, obwohl sie, in der Hierarchie über ihm
stehend, die Befehle zu verantworten hatten, die sie an Papon erteilt hatten und die Papon weitergab. Er hat sie sich nicht allein ausgedacht; niemand behauptet, daß die Politik Vichys gegenüber den Juden das
Werk dieses Beamten allein war. Es ist ein Rechtsbruch, weil die Verbrechen im französischen Recht nach 20 Jahren verjährt sind. Und man komme mir nicht damit, daß der Fall Papon nach der „Befreiung“ nicht
überprüft worden wäre. Er hat sich verteidigen und vorbringen müssen, was er für die Befreiung getan habe. Mehrere Eisen im Feuer zu haben, ist noch kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Außerdem, und das
wird in diesen Tagen allzu oft vergessen, haben verschiedene Amnestien seit 1950 nach und nach die Strafverfolgungen auslaufen lassen. Diese Amnestien hatten ihre notwendig politischen Gründe, und die
Moralapostel der Staatsschaubudenschietschützenschürzenwischer, allesamt begeisterte Sekundanten der Massaker an ihren offiziellen Feinden (den Islamisten, Arabern usw.), haben auf diesem Gebiet der –
absolut notwendigen – nationalen Aussöhnung überhaupt keine Lektionen zu erteilen; es sei denn man stellt in Frage, daß es die Nation ist, die die Grundlage unserer politischen Existenz bildet.
Man wartete das Ende der Kolonialkriege und die Amnestie der französischen Verbrechen in Algerien ab, um sich mit dem Recht auszusöhnen. 1964 macht Frankreich etwas, was es nicht tun
konnte, ohne dabei ins Groteske abzusacken, und dekretiert die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – eine juristische Kanonenkategorie, die im französischen Recht bis dato nicht vorhanden war
– als unverjährbar. Die universale Neuerung hat ihren Einzug erst viel später gehalten und ist erst im neuen Strafgesetzbuch von 1993/1994 paragraphiert worden. Die rückwirkende Anwendung dieser
Unverjährbarkeit war eine schöpferische Neuerung der höchsten Beamtenschaft, eine Amtspflichtsverletzung in Vorbereitung des Barbie-Prozesses. Die Rückwirkung eines Gesetzes einzuführen, bedeutet einen Bruch der
Menschen- und Bürgerrechte, wie sie in der Erklärung von 1789 festgelegt worden sind (Art. VIII: „Niemand kann für eine Sache bestraft werden, die zur Tatzeit von keinem Gesetz verboten war.“) Papon kann
der Prozeß wegen seiner Tätigkeit als Generalsekretär der Präfektur der Gironde überhaupt nur deshalb gemacht werden, weil der Apparat die unglaublichsten Amtspflichtsverletzungen und Umstülpungen der Gesetze
produziert und vermutlich weiter produzieren wird. Und man hat sich schon daran gewöhnt, die Richter dieses Landes vor jeder Kampagne der veritablen Machthaber auf allen Vieren kriechen zu sehen.
Der ausgezeichnete Beamte, der Papon war, sollte nach dem Krieg eine erstaunliche Karriere machen. In den Präfekturen zuerst, und das für lange Zeit. Seine journalistischen Biographen
haben seine Rolle als Präfekt von Konstantin am Anfang des Algerienkrieges übersehen. Dabei hat er doch dort einige dunkle Erinnerungen hinterlassen. Danach kam, mit der Ernennung zum Polizeipräfekten von Paris,
die Stunde seines Ruhmes. Der Polizeichef im Oktober 1961, das war er. Unter seiner Verwaltung hat man die Harkis1 als
Polizeihilfstruppen aus Algerien kommen lassen. Diese bewaffneten Bestien verbreiteten nicht nur in den von Gastarbeitern bewohnten Vierteln Terror – wo sie festnahmen, wen sie wollten, und folterten, wen
sie wollten –, sondern in der ganzen Stadt.
Es hat sich dann in Paris etwas zugetragen, was völlig unvorstellbar schien. Papon hatte, am Anfang des Monats, eine Ausgangssperre für die algerischen Arbeiter verhängt, deren Zahl in
der Pariser Region mehrere Hunderttausende betrug und die jene verschwundenen Planeten bewohnten, die man bidonvilles nannte. Die Befreiungskämpfer führten einen schmutzigen, nicht erklärten Krieg gegen die kolonialistische Herrschaft. Wir hatten eine Million französischer Soldaten, um die Algerier in Algerien zu überwachen und zu jagen. Die FLN, die Nationale Befreiungsfront, hatte „den Krieg in die Metropole getragen“. Die FLN-Kader brachten völlig unerwartet fast alle algerischen Arbeiter auf die Straße, und das in einwandfreier Ordnung und Disziplin, um gegen die Ausgangssperre zu protestieren. Die Männer waren absolut unbewaffnet und demonstrierten ohne jede Gewalt. Ihre Entschlossenheit war um so beeindruckender. Auf Befehl des Präfekten Papon begannen die Pariser Bullen, in die Masse zu feuern. Sie haben geschossen, mit scharfer Munition, ohne die geringste Provokation. Die Menge flutete zurück; die Polizei lud wieder durch. Zehntausende wurden festgenommen, mit langen Stöcken geschlagen. Hunderte Männer sind in dieser Nacht in Paris getötet worden: auf der Straße, in den Wachstuben, im Hof der Präfektur. Wie konnte eine solche Maßnahme von Beamten überhaupt in Erwägung gezogen werden? Viele ihrer Leichen wurden in die Seine geworfen, während die Pariser Bevölkerung in Abstand zu dem Geschehen blieb, in einer feindseligen Gleichgültigkeit und einer totalen Abwesenheit von Solidarität mit den Menschen, die nur die Knochen ihrer Schädel und ihre nackte Haut dem Knattern der Maschinengewehre und den Knüppelschlägen entgegenzusetzen hatten. Man hat in einem Viertel sogar Franzosen gesehen, Leute von der Straße, die aus den Kofferräumen ihrer Autos die Kurbel holten (damals hatten die Autos noch Kurbeln, um den Motor zu starten) und mit den Bullen gemeinsam auf die Algerier einschlugen, die vor der Gewalt des Polizeisturmes zurückdrängten. Ich kann bezeugen, daß die Franzosen sich in ihrer großen Mehrheit an der Seite ihrer Polizei befanden, um Algerier, die ihre Unabhängigkeit verlangten, zu schlagen, zu foltern und zu töten. Papon war der Chef des Ganzen, er war für die Ausführungsbestimmungen verantwortlich. Er gab direkt die Befehle. Er hat das Blut von hunderten Morden an den Händen, denn, es sei noch einmal gesagt, das Unglaubliche an diesem Abend des 17. Oktober 1961 war, daß keiner der Algerier – Aktivist oder Arbeiter, Kämpfer oder kleiner Händler – bewaffnet war und daß alle ruhigen Schrittes demonstrierten. Ein Verbrechen ist geschehen. Ein riesiges, kollektiv begangenes Verbrechen, dessen ganze Verantwortung auf die fällt, die man in lächerlichem Euphemismus „Ordnungskräfte“ nennt.
Die Presse, unterwürfig und dienerisch wie immer, hat so gut wie nichts von diesem unglaublichen Vorgang berichtet. Die faustdicke Lügnerei der Presse während des Algerienkrieges fand
kein Ende. Aber da Paris nicht in den Bergen des Uarsenis liegt, haben sich einige Dinge doch herumgesprochen. Ich für meinen Teil war an der richtigen Stelle, um einiges mitzukriegen: Ich war neunzehn und
arbeitete im Untergrund mit den Algeriern zusammen. Doch für die Handvoll Franzosen, die, wie man zu der Zeit sagte, „Unterstützer“ im Kampf der Algerier waren, lautete die Anweisung, sich nicht unter die
Demonstranten zu mischen. Wir sollten nicht teilnehmen; man hat uns für andere Dinge einsatzbereit halten wollen. Aber ich erinnere mich an die furchtbare Verzweiflung, die uns überkam, als wir erfuhren, was
sich abgespielt hatte, als die Polizei in die Demonstrationszüge geschossen und die Algerier massakriert hatte. Wir wollten nur noch eines: die Waffen ergreifen, eine Polizeiwache stürmen und all diese
Bullenschweine umlegen. Ganz tief in unserem Bauch fühlten wir die Wut. Das war der Krieg. Sie töteten uns – sie mußten getötet werden. Es war an diesem Tag, daß ich aufhörte, Franzose zu sein. Frankreich
war auf Seiten der Mörder, der Bluthunde, die jene in Massen töteten, die sich in der Nacktheit ihres guten Rechts zeigten; in der Tradition, in der man mich erzogen hatte in den Schulen, in der Tradition der
Republik, des Widerstands, des Rechts, sich gegen ein ungerechtes Regime zu erheben, das der Menschlichkeit ins Gesicht schlug. Ich verstand, daß der Staat, wenn er mit seinem ideologischen Latein, seinem
humanistischem Schleim und seinen juristischen Spitzentänzereien am Ende war, daß dieser Staat dann die nackte Gewalt, den Schlagstock, das Gewehr, den Tod bedeutet. Im allgemeinen verbirgt er seine Natur, doch
wenn man ihn an seine Grenzen treibt, dann tut er das, was er im Oktober ’61 in Paris getan hat: Er massakriert, bis an den Rand seiner roten Teppiche und seiner Nationalpaläste, vergoldet und verwest vom
Blut unserer Vorfahren, auch sie regelmäßig vom Staat massakriert im Verlaufe der Zeiten. Diener des Staates zu sein, das heißt sich auf den Weg des Verbrechens zu begeben. Ich sah es mit meinen Augen, als ich
an den Demonstrationszügen entlang fuhr, von wüsten Emotionen heimgesucht, von Blut, wie irre am Rande des Selbstmordes, der allein nur das alles hätte auslöschen können. Denn eine gerechte Sache zu verteidigen,
das hieß von den Bluthunden der stinkenden französischen Bourgeoisie hingemetzelt zu werden; es war besser, auf der guten Seite zu sterben. So standen die Dinge; ich habe diese Lektion nie vergessen. Und ich
vergaß es auch im Juni 1968 nicht. Als de Gaulle nach Deutschland fuhr, um zu sehen, ob er mit Soldaten rechnen kann, die eventuell kommen würden, uns zu massakrieren, war ich einer der wenigen aus der 68er
Bewegung, die sagten, wenn wir ernst machen und wir den Staat wirklich schlagen wollten, dann sei jetzt der Moment gekommen, zu den Waffen zu greifen und uns darauf vorzubereiten, für die Freiheit zu kämpfen und
zu sterben. Man hat mich wie einen Verrückten angeguckt und die staatliche Ordnung war zwei Wochen später wiederhergestellt. Die Folgen dieser kampflosen Niederlage sind heute noch zu sehen.
Papon ist also nicht einmal kritisiert worden. Ganz im Gegenteil: Er ist in den Korridoren der Macht gelobt worden als der, der „die Schlacht von Paris“ gewonnen und die Republik
gerettet hat. Weniger als ein Jahr später wurde Algerien unabhängig und die französische Republik mußte wohl oder übel alle Versprechungen zurücknehmen, die sie seit Jahren der Armee, den Schwarzfüßen2 und der öffentlichen Meinung in Frankreich gemacht hatte. Zur Hierarchie der Vorgesetzten Papons gehörte seinerzeit Innenminister Roger Frey. Dieser ist kürzlich gestorben. “Ein großer Verbrecher ist von uns gegangen, der nie Rechenschaft geben mußte!”: Das wären die passenden Worte an seinem Grab gewesen; statt dessen vernahm man gedämpfte Lobhudelei: “Ein großer Staatsmann...” usw.
Eine Etage über Frey saß der Premierminister Michel Debré, ein weiterer großer Kriegsverbrecher3 , und, noch
weiter oben, der General de Gaulle. Er hat die Massenmorde gedeckt, die Folterungen, die Leichen in der Seine. Ein Mann, der gegen Hitler gekämpft hatte, konnte nicht schlecht sein. Und dennoch war er voll und
ganz verantwortlich, und ich, da, wo ich stand mit vielen meiner Freunde, die an diesem Abend verschwanden und niemals wiederkamen, ich sah keinen rechten Unterschied; ich sah sozusagen überhaupt keinen.
Wie ich schon sagte, habe ich an diesem Tag aufgehört, Franzose zu sein, und ich bin es seither nie wieder geworden. Denn danach sind all diese Dinge ausgelöscht worden. Ausgelöscht nicht
durch das Vergessen und die irreparable Zeit, die vor uns lag. Ausgelöscht durch politische Entscheidung. Ab 1964 hat die Regierung beschlossen, die Verbrechen, begangen „in Verbindung mit den Ereignissen in
Algerien“, zu amnestieren. Die Verbrechen gegen den Staat von 1958, mit denen General de Gaulle an die Spitze des Staates gehievt wurde, waren bereits am 31. Juni 1959 amnestiert worden (Gesetz Nr.
59-940). Die Gesetze vom 17. und 18. Juni 1966 (Nr. 66-396 und 66-409), ergänzt durch das vom 31. Juli 1968 (Nr. 68-697), sollten nicht nur die Täter verschiedenster Verbrechen und Greuel entlasten, sondern
generell ganz konkret untersagen, öffentlich an die Verantwortung von Leuten zu erinnern, die diese im Rahmen ihrer Funktionen befohlen hatten. Mit einem Male war – welches Ausmaß die Übergriffe und die
Zahl der Morde auch immer hatten (Hunderttausende von Zivilisten sind von der französischen Armee getötet worden, um die Untergrundkämpfer zu demoralisieren) – nicht mehr die Rede von den Verbrechen gegen
die Menschlichkeit. Nürnberg war vergessen. Die Amnestiegesetze benutzen übrigens den schamhaften Begriff „Verstoß“, um die Handlungen zu bezeichnen, die sie durch obrigkeitlichen Beschluß zum, zumindest
juristischen, Vergessen verurteilen. Die Römer hatten eine gleichartige Institution, die sie damnatio memoriae nannten. Doch diese wurde auf als solche erkannte Kriminelle angewandt. Bei uns bedeckt sie den Kriminellen mit einer rostfreien Unschuld. Man kann Papon deswegen nicht gerichtlich verfolgen. Diese Taten, außerordentlich blutiger und verbrecherischer als Leute in Züge nach Paris zu stecken, werden von den Gerichten nicht als Verbrechen, als Gründe einer Klageerhebung anerkannt werden. Selbst die Presse, die auf sie verweist, stellt sie auf eine viel niedrigere Stufe.
Von Zeit zu Zeit sieht man in der mondänen Le Monde eine Anzeige zur Erinnerung an das Verschwinden eines Juden während des Krieges in der Hölle der KZs mit dem Zusatz versehen – natürlich von der Familie verfaßt –: „Kein Verzeihen, kein Vergessen!“ Die Erinnerung ist ein Wert und das Verzeihen kann weder verlangt noch verordnet werden: Seiner Familienangehörigen zu gedenken ist Bestandteil unserer Kultur. Was aber das systematische Gedenken in der Öffentlichkeit, die diskrete Regelmäßigkeit, mit der dieses geschieht, und das Schweigen von Le Monde gegenüber den Massakern der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart auf der anderen Seite, betrifft, so entsteht folgendes Bild: Araber, Moslems zu massakrieren, ist kein richtiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit – man darf es sogar ab und zu tun, um sich zu zerstreuen oder damit unsere tapferen Landser fit bleiben (Irak ist der Beweis!) –, während einem Juden etwas anzutun, ein Verbrechen darstellt, das keine Bestrafung je durch die Jahrhunderte wird reinwaschen können. Leute, die sich so verhalten, offenbaren damit ihre wahre Natur: Sie sind voller Unmenschlichkeit; sie haben nichts verstanden und werden nie etwas davon verstehen, was Menschenleben und Leben in der menschlichen Gesellschaft heißt. Sie sind durchdrungen von Dummheit und Haß. Denn sie sind von den gleichen Gefühlen erfüllt, aus denen heraus die Israelis Tag für Tag Leute massakrieren, zu Tode foltern oder lebenslänglich einsperren, die eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen haben: seit Urzeiten in Palästina zu leben, dort bereits gelebt zu haben, als gewisse Juden sich einfallen ließen, mit dem Gewehr in der Hand ins Land zu kommen, und ihnen im Namen völlig nebulöser Theorien die Haut abzuziehen. Diese Barbaren sollten ihrerseits vergessen werden, und es sollte ihnen vergeben werden. Sie sollten ihrem knausrigen Ärger und ihrem armseligen Streben nach immer mehr Geld überlassen bleiben.
Einige Zeit nach dem Massaker vom Oktober ’61 hatte die algerische Führung in Frankreich beschlossen, die Sache mit Papon endgültig zu erledigen. Ich weiß nicht mehr, ob es darum
ging, ihn zu entführen, um ihm im Ausland den Prozeß zu machen, oder ob er einfach nur umgebracht werden sollte. Jedenfalls bat man uns, eine permanente Beschattung Papons, der immer noch Polizeipräfekt war, zu
organisieren. Einige Monate lang wurde er also von einer kleinen Gruppe von Jungs und Mädels, die sich für die Unterstützung der algerischen Sache entschieden hatten, eng überwacht. Er ging heimlich einige
Privatwohnungen besuchen. Wir dachten zuerst, er hätte dort Liebschaften, doch dann kamen wir auf die Idee, es könne sich um Barbouzes – Galgenvögel – handeln: Treffpunkte von Papon, dem Staatsmann, mit Spionen, Verbrechern, Dieben usw., deren Bekanntschaft der gaullistische Staat pflegte, um die Schmutzarbeit erledigen zu lassen.
Ein FLN-Ausbilder hatte uns ein Maschinengewehr mitgebracht und uns in seiner Handhabung unterrichtet. Ich glaube, wir hatten genug über die Gewohnheiten und die Bewegungen unseres Zieles
in Erfahrung gebracht, so daß es kein großer Akt mehr gewesen wäre, ihn zu töten. Als disziplinierte Aktivisten warteten wir lediglich den Befehl ab, um zur Tat schreiten zu können. Dieser Befehl ist nie erteilt
worden. Die Verhandlungen in Evian gingen zügig voran, und die Algerier müssen gedacht haben, daß es zu diesem Zeitpunkt nicht von Nutzen wäre, einen bekannten französischen Kriminellen, der eine Figur des
gaullistsichen Staates war, umbringen zu lassen. Sie haben sogar zu dieser Zeit darauf verzichtet – und das Blut war noch warm, und viele Männer saßen noch in den Gefängnissen –, die
Kolonialisierung, die Kriegs- und Repressionsverbrechen vor Gericht zu bringen, denn die Unabhängigkeit war ihnen wichtiger als alles andere – die Sache, für die sich so viele von ihnen geopfert hatten
–, und es schien ihnen für die Zukunft nützlich, ein gutes Verhältnis zu Frankreich aufzubauen. Sie haben sich also entschieden, zu vergessen und zu vergeben. Dafür kann ich mich verbürgen, denn ich bin
wenige Wochen nach der Unabhängigkeit nach Algerien gegangen und bin dort – wo man gerade dem Alptraum des OAS-Terrors entkommen war – in den Familien, den Dörfern und in Algier wie ein Freund
empfangen worden. Niemals hätte ein Algerier auch nur ein Schimpfwort für die Franzosen benutzt, die nach 130 Jahren brutaler, rassistischer, schmutziger Okkupation Algerien verließen. Ich sage, daß diese Leute,
deren Menschlichkeit im Islam verwurzelt ist, diesen schrecklich engherzigen Krämergeistern, die ständig ihr „Kein Verzeihen, kein Vergessen!“ skandieren, menschlich tausendfach überlegen sind.
Ich habe Papon nicht getötet. Hätte ich es getan? Zu der Zeit damals hätte ich kein moralisches Problem damit gehabt. Es war Krieg. Die damalige Regierung machte ihren Willen deutlich,
Leute wie mich in den Krieg nach Algerien zu schicken. In diesem Krieg stand man auf der einen oder auf der anderen Seite; es war unmöglich, sich herauszuhalten, es sei denn, man desertierte. So jedenfalls sah
ich es, und alle die in diese Sache verwickelt waren (und das waren so ziemlich alle jungen Franzosen, ganz zu schweigen von allen Algeriern) dachten genau so. Heute möchte ich die Weisheit der Algerier
würdigen. Sie haben sich nicht gerächt um der Rache willen. Sie habe das Vergangene vom Vergangenen begraben lassen. Trotz der erdrückenden Untersuchungsergebnisse, die bereits vorgelegen hatten, haben sie sich
der Zukunft zugewandt. In dieser ihrer Zukunft haben sie leider nicht die gleiche Weisheit an den Tag gelegt.
Der Zufall hat es gewollt, daß ich nicht zum Mörder geworden bin (oder zu dessen Komplizen, was auf dasselbe hinausläuft). Ich glaube, daß ich es bedauert hätte. Ich habe, etwas später,
gelernt und begriffen, daß man nicht das Recht hat, das Leben eines anderen Menschen auszulöschen. Der alte Drache Papon ist nun von weiter zurückliegenden Verbrechen eingeholt worden, über die, obwohl verjährt,
geurteilt werden wird, um der Gemeinde der Ewiggestrigen, der ewig verfolgten Verfolger, der grausamen Unmenschlichkeit der Gerichtsherren, eine Freude zu machen. Da hat er Pech. Und jene werden Pech haben, die
sich ein weiteres Mal als unberufene Vorredner aufspielen werden. Er, der kaltblütig getötet hat, der 1962 der Kugel des kurzen Prozesses entkommen ist, er wird nun in den Genuß einer Prozedur kommen, die
wiederum auf einem Rechtsbruch basiert. Dabei wären diese Leute dafür geschaffen, sich zu verstehen; sie sind aus demselben Stoff.
Nachtrag zum Papon-Prozeß / Die Affäre Papon-Jouffa-Faurisson
Aus Anlaß des Prozesses gegen Papon und einer während der Verhandlung von ihm gemachten Bemerkung hat die französische Presse ihre beachtliche Fähigkeit bewiesen, quer zu verstehen,
Gerüchten zu vertrauen, das, was sie pompös „Informationen“ nennt, nicht nachzuprüfen, kurz: einmal mehr ihre Natur als der jeweils aktuellen Macht dienend.
Maurice Papon hat es bedauert, daß Yves Jouffa nicht Zeugnis über das Durchgangslager Drancy ablegen gekommen kann, denn er war Teil der Bürokratie dieses Lagers gewesen. Diese Äußerungen
Papons haben für einige Überraschung gesorgt, ist der Anwalt Jouffa doch als Linker (mit einer langen trotzkistischen Vergangenheit, die die Presse bei dieser Gelegenheit gern vergißt) bekannt, der schwer mit
einer Kollaboration mit den Deutschen in Zusammenhang zu bringen war. Jouffa hat dementiert und protestiert. Er hat nur, so sagt er, Brot an seine Kameraden verteilt. Eins kann aber nur stimmen: Entweder hat
Maurice Papon recht, oder es hat Yves Jouffa recht. Die Presse hält es für angebracht, Jouffa ohne Beweis zu glauben, aus Gründen, die sie Papon seit Monaten fertigmachen läßt, ohne abzuwarten, daß de Prozeß die
Beweise für die Schuld erbracht hätte, was im Grunde genommen seine Aufgabe wäre. Die Voreingenommenheit hat politische Gründe, die, um gut verborgen zu bleiben, nichtsdestotrotz gewöhnlich sind.
Doch ganz übereinstimmend schreibt die Presse die Vaterschaft dieser Äußerungen Professor Faurisson zu. Er hat in einem kurzen Text vom 9. August 1997 davon den Tenor gegeben, der im
Internetz unter dem Titel „Maurice Papon et Yves Jouffa: deux poids, deux mesure“ (siehe Sleipnir 5/97) verbreitet wurde und in dem er Äußerungen Papons aus einer Fernseh-Sendung vom Januar 1997 aufgreift.
Zu dieser Zeit hatte Papon Jouffa nicht identifiziert. Professor Faurisson hat also das getan, wozu die Faulpelze der Presse nicht in der Lage waren, nämlich die Person zu identifizieren,
von der Papon gesprochen hatte. Professor Faurisson die Urheberschaft zuzuschreiben, die Papon von ihm übernommen hätte, stellt also genau die Umkehrung der Realität dar. Indem er Jouffa
Übersetzung: Peter Töpfer
Anmerkungen:
1 Algerier, die im Dienste der Kolonialmacht Frankreich kämpften – Anm. d.Ü.
2 Pieds-Noirs, Bezeichnung für die aus Nordafrika geflohenen Auslandsfranzosen
3 Siehe „A great French War Criminal Disappears“, Le Temps irréparable, 10.8.96; http://www.abbc.com/aaargh
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