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Auseinander- und Zusammensetzung mit Nationalmarxisten, Nationalhegelianern und anderen Philosophen
Selbstversuch Zu Peter Sloterdijk: Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, Carl Hanser Verlag, 1996, 151 S., 29,80 DM
(Diese Buchbesprechung erschien zuerst in Sleipnir. Zeitschrift für Kultur, Geschichte und Politik 2/1998)
Peter Sloterdijk ist mir einige Male positiv aufgefallen. Sein Habitus gefällt mir. Seine langen, strähnigen, blonden Haare. Ich mag sein gewitztes Gesicht, seine ruhige,
gelassene, starke Art. Bei extrem wenigen Menschen kann man den Eindruck gewinnen, sie seien unabhängig und frei, geistig munter, vertrauten ihrem eigenen Kopf. Diesen Eindruck hat man von Peter
Sloterdijk. Ich las u.a. letztes Jahr ein Gespräch mit ihm in den Lettres internationales ("Kantilenen der Zeit. Zur Entidiotisierung des Ich und zur Entgreisung Europas", Nr. 36, 1/97) und fand prompt diesen Eindruck bestätigt: Mit einer Selbstverständlichkeit stach er z.B. ins Wespennest der geistig Amputierten und Hysterischen, diesen Schandflecken oder vielleicht Musterexemplaren der Menschheit, und sprach von seiner Bewunderung für Bhagwan (der sich später Osho nannte). Herrlich!, dachte ich mir: Alles trampelt und hetzt panisch auf irgendwelchen Sekten herum, und da kommt dieser anerkannt intelligente Kerl und spricht von Bhagwan – als einem seiner Meister. Und wie er es auskostet, wie er es genießt, all diese Kaputten und Aufpasser jaulen zu hören und kuschen zu sehen. Nun gut, das war der Anstoß für mich, mich mit Bhagwan, seiner Sanjassin-Bewegung und dem Experiment Poona zu befassen, was mir tatsächlich Freude und Erregung gebracht hat und zur Gründung der nationalanarchistischen Weltbewegung geführt hat; das muß all den Kleingläubigen und Ängstlichen natürlich verwehrt bleiben.
Besagtes Lettre-Interview wurde anläßlich des Erscheinens seines neuesten Buches geführt, dessen Titel "Selbstversuch" mich sehr neugierig
machte, da ich mich seit langem mit der experimentellen Explorierung und vertieften Erfahrung, der Wiederentdeckung des real Eigenen, der Existenz, des ganzen Wirklichen, nicht nur der Produkte des
Neokortex, befasse, und Sloterdijk im Gespräch seine Wertschätzung psychotherapeutischer Ansätze zu erkennen gibt: "Es gibt da also einen ziemlich weiten Horizont, innerhalb dessen Gestalten wie
Osho oder Bhagwan Shree Rajneesh, wie er sich damals nannte, und Lacan und viele andere aus der Szene der psychotherapeutischen Avantgarde unseres Jahrhunderts eine wichtige Rolle für mich gespielt
haben." Ich bin zwar kein Intellektueller, weiß aber durchaus die Weisheit zu genießen, was freilich nicht so weit geht, mich großartig mit philosophischen Systemen zu beschäftigen, und ich
hätte mich beispielsweise nie mit Sloterdijks "epochemachendem Buch" (Carlos Oliveira) "Kritik der zynischen Vernunft" näher befaßt. Aber in diesem Falle dachte ich mir: Oh, das
könnte spannend werden, das ist etwas anderes, und ließ mir ein Rezensionsexemplar schicken.
Aber es war nichts. Es sollte mit einem sonstwie gearteten Selbstversuch nichts zu tun haben. Das Buch ist reine Intellektualität. Auch das kann gewiß streckenweise amüsant
und prickelnd sein. Ich kann damit nicht so viel anfangen, verstehe nur wenig. Es geht viel um Philosophiegeschichte, Literatur, Politik, Religion; um "Entschleunigung", das
"Monochrome", "Erodynamisches", "dekantieren", "Kalenderneurose", "Jovialität in der Moderne", den "großen Globalisierungsekel", Bourdieu,
Baudrillard, Jacob Taubes, Paul Virilio; die Kapitel ("Stichworte") lauten: "Eine Welt ohne Abstände", "Letzte Menschen und letzte Engel", "Glückliche Theorie und
moderne Theorie", "Was heißt: zur Welt kommen? – Das Verlangen nach Revolution", "Sphärenpolitik", "Im Auge des religiösen Zyklons", "Der deutsche
Sonderweg in die Häme und die Aufgabe des Autors", "Das Schwere und das Leichte", "Medientheorie – oder: Warum sagen wir etwas und nicht nichts?" usw.
Ich war enttäuscht. Der Mann kann nicht lange bei Bhagwan gewesen sein; hat sich garantiert nicht der Egozertrümmerungsmaschine ausgesetzt. Sein Aufenthalt in Poona hat keine
tiefere Wirkung hinterlassen, außer vielleicht, daß er nur den Reden des Meisters gelauscht, nur ihren intellektuellen Aspekt wahrgenommen hat. Bhagwans Bedeutung beginnt für mich aber erst dort, wo
er Rahmen-Geber eines großartigen Experiments, der Rückkehr einiger zur kosmischen Dimension, d.h. zu ihrem Selbst gewesen war, bei welchem Versuch der Intellekt nur noch Begleiter ist, Trafostation,
Orientierer, Helfer, Lotse usw. der ruhigen Weisheit, des Tiefenbewußtseins, des inneren Wallens, der Existenz, der Wortlosigkeit, dieses Walfischs, der viel mehr Würde hat als diese paar Begriffe,
der aber für einen Intellektuellen wie Sloterdijk "kein massives Ding ist, sondern ein Hohlraum" (S. 20). Dort, wo es keine Scham mehr gibt, keine Schuldgefühle. Dafür sind Intellos
natürlich keine geeigneten Kandidaten. Und ein Intello, der einen Lacan zu einem weiteren Meister gehabt hat, ist sicher besonders schlimm dran. Für den ist "die Seele, die mit sich
experimentiert", indem sie sich "in die letzten Partikel zerlegt", ein "real existierendes Nichts" (S. 20) Ja, beim Zerlegen bleibt wirklich nichts anderes übrig.
Sloterdijk hat sich auf keinen wirklichen Selbstversuch eingelassen; er ist höchstens den "analytischen Mythos bis ans Ende gegangen" (S. 22). Aber er
ahnt und spürt wenigstens in seinem Intellekt das Geniale, ohne sich wirklich einem "Selbstauflösungsexperiment" hinzugeben, welches Gottfried Benn durchgeführt haben soll (S. 19), was
angeblich "das Äußerste darstellt, was das 20. Jahrhundert kennt". Auf Seite 43 "fällt [Sloterdijk] der Satz Ciorans ein, der irgendwo sagt, das einzig sichere Zeichen, daß einer alles
verstanden hätte, wäre, daß er anfinge, besinnungslos zu weinen". Diese Erfahrung hat Sloterdijk mit Sicherheit nicht gemacht; das hätte er in Poona haben können, aber diese Chance ist vertan.
Aber der Eindruck wirkt nach: "Ohne Zweifel könnten die Sekten das interessanteste soziologische Thema der Gegenwart sein, wären die Soziologen nicht in der Mehrheit erloschene Köpfe. Am
Verhalten zu den Sekten läßt sich der latente Totalitarismus der aktuellen Marktgesellschaft und ihrer Intellektuellen darstellen, denn der totalitäre Markt duldet nur das lockere, ausgekühlte Modell
der Gesellschaft als freier Kundenassoziation, und genau das sind Sekten a priori nicht. Sekten sind heiße Kommunen, Brutkästen, Psychoreaktoren, sind organischer als die kühlen Massen atomisierter
und vernetzter Käufer-Nomaden." Ja, so etwas war im Lettres-internationales-Gespräch, im Appetit-Häppchen noch verheißungsvoll, hier im Buch bleibt alles eben nur –
"soziologisches Thema"! Aber sein Kopf wenigstens ist nicht erloschen. Immerhin! Und er weiß von der Flachheit, von der Enge, der Angst, der Feigheit, dem Elend seiner
Intellektuellen-Kollegen, diesen "Herren vom Fachbereich für tote Ideen" (S. 39). Er deutet immer wieder an, daß er nicht so ist wie sie, oder daß er nicht so sein will wie sie. Aber er ist
es im Grunde doch. Es braucht nicht viel, sich von all diesen Schafen abzuheben. Und wenn man es mit all diesen Elenden zu tun hat, dann ist man auch irgendwie gefangen von ihnen; sie hängen einem an
den Beinen. Sie werden ja auch nicht für irgendwelche Ideen bezahlt, sondern fürs Wiederkäuen der Parolen der Plutokraten. Aber Sloterdijk ist keiner, der sie verjagt und abschüttelt. Er spricht
keine blutende Sprache, er greift die wirklich heißen Themen nicht an. Er ist elegant und sehr eloquent. Aber er hat nicht die Leidenschaft, die Ehrlichkeit, das Feuer, den Wahn eines Oberlercher. Er
fragt sich, seine (68er) Generation im Blick, "mit Shakespeare: ‘Welch edler Geist ward da zerstört?’ oder mit einer zeitgemäßen Phrase: Wie war der lange Marsch in die Gemeinheit
möglich?" Und anstatt selbst seinen Geist wirklich mit Taten zu veredeln, vorzumachen, wie man zum edlen Geist wird, nämlich indem man dem Schafsgesocks, das uns einpferchen und einknasten will,
einmal ordentlich mit dem Knüppel droht, läßt er wieder den Intello raushängen: "Um diese Fragen gut zu beantworten, müßte man eine Psychohistorie der deutschen Linken und Linksliberalen von
1968 bis in die neunziger Jahre hinein schreiben: die Verkrustungs- und Verbitterungs- und Stagnations- und Anmaßungsgeschichte einer intellektuellen Generation. Leider sehe ich in der deutschen
Szene niemanden, der eine solche Aufgabe heute schon lösen könnte." Einer löst zwar nicht diese Aufgabe, weil es vielleicht einfach gar nicht seine ist, aber einer ist der lebendige Beweis,
trotz oder bei gleichzeitiger Hyperintellektualität, obschon er noch "eine gottähnliche Schau auf die moderne Welt" und "wie Hegel alles in große Kreise zu zwingen" (S. 42)
versucht, einer ist der Mann der Tat, der Mann des wirklichen, des ehrlichen, standhaften, wahrhaftigen, unbestechlichen Geistes, und es ist nur einer aus dieser Generation (zumindest der
"intellektuellen Generation"; gottseidank gibt’s ja noch andere Schichten, wo man noch weiß, was Ehre ist), der ganz allein diese Aufgabe in der Wirklichkeit gelöst hat, und das ist
Oberlercher; denn Geist ohne Tat ist Stagnation, d.h. stinkt. Und da läßt Sloterdijk sie auftreten, die armen Opfer der "altlinken und linksliberalen Bitterbosheit" (S. 116), Peter Handke,
Botho Strauß, Wim Wenders und sich selbst, das "gnostische Quartett" (S. 111, Zit. Th. Assheuer, FR), wie sie am Pranger der Halbtoten stehen und bescheinigt sich selbst einen
"erhöhten Anpöbelungs-Koeffizienten". Mir fehlen die Worte, wie diese Feuilleton-Kreaturen einem Oberlercher begegnen würden: Fassunglosigkeit, Ungläubigkeit, daß es so etwas überhaupt
gibt, nämlich Freiheit; dann totaler Irrsinn, Anfall, japsende, die Stimme zum Versagen treibende Hysterie, panische Angst... Dagegen erfahren doch Sloterdijk und seine angeblich Mitangeprangerten
geradezu die Kuscheldusche aus der Männergruppe. Sloterdijk hält sich unterdessen "für diese Subdiakone der Kritik noch anders provozierend als meine Prangernachbarn". Doch auf die Frage
des jungen unwissenden Spaniers, wie das zu verstehen sei, kommt allen Ernstes nur kläglich: "Es wäre ein Fehler, auszusprechen, was ich hierzu denke. Das ist eine Sache für die Nachwelt. Ich
mache meine Notizen, später wird man sehen." Ja kann denn das wirklich wahr sein?! "Für die Nachwelt"!... Und der Spanier hat keine Ahnung, merkt die Brisanz nicht, frägt naiv weiter:
"Wann später?" Sloterdijk: "Irgendwann. Wenn es Zeit ist für das Psychogramm einer verlorenen Generation..." Ach Gottchen. (So wie Hans-Joachim Maaz, der auch sein
"Psychogramm der DDR" – : Untertitel von "Der Gefühlsstau" – tapfer nach der Wende schrieb.) Wenn er dann mal nicht schon an Krebs gestorben ist! Wer so viel
zurückhält... Das kriegt sogar der Spanier mit und wundert sich plötzlich über die nicht mehr zu kaschierende Erregung Sloterdijks: "Peter, ich kannte dich bisher nicht als Polemiker, deine
Bücher machen immer so einen gelassenen Eindruck..." – "Ich bin eine unpolemische Natur, das ändert nichts daran, daß ich in bestimmten Dingen Deutlichkeit erreiche..."
Deutlichkeit?! Ja, "irgendwann" vielleicht mal...
Bei "Gelassenheit" muß ich immer an diese Stelle bei Janov denken, wo es darum geht, daß die vitalen Körperparameter wie Blutdruck, Temperatur und
Hirnaktivität bei tatsächlicher Heilung fallen, und daß dies das untrügliche Zeichen für realness sei. Und es meldete sich ein Jünger des Bio-Feedbacks oder einer anderen Eso-Methode und ließ sich untersuchen. Er hatte fleißig trainiert und gelernt, Blutdruck und Temperatur zu senken, er war so gut wie "völlig entspannt", ja "erleuchtet"; doch dann wurden die Elektroden angeschnallt und man sah auf dem Monitor die Alpha-, Gamma- oder Betaströme nur so rasen...
War’s also doch nichts mit dem gelassenen Peter.
Rudolf Bahro, der ja auch eine Passage bei Bhagwan hatte, und der sich ebenfalls nicht surrendered hat, ist ja inzwischen an Krebs gestorben. Bahro hatte im übrigen ausgeschwitzt. Als einziger von etwa zwanzig Promis, denen wir nach Erscheinen von Serge Thions "Historische Wahrheit oder Politische Wahrheit? Die Macht der Medien: der Fall Faurisson" ein Exemplar zugesandt hatten, hatte er die Liebenswürdigkeit, das Buch zu bezahlen und uns dann sogar zu schreiben, nachdem wir einen Auszug aus seiner "Logik der Rettung" gebracht hatten, was er nicht so gut fand. Er schrieb uns – sinngemäß, denn diese Postkarte liegt, wie überhaupt die bis dahin vollständige Verlagskorrespondenz, als beschlagnahmt bei der Polizei –, wir würden das Gegenteil dessen tun und erreichen, was wir vorgäben. Er hatte verstanden, und er mußte die Unwahrheit schreiben, weil er zu feige war. Für uns ist die Freiheit nur interessant, wenn sie gelebt wird. Auch diese, die Hier-&-Jetzt-Lektion, muß Bahro in Poona verpaßt haben. Die Rationalisierung des Sankt-Nimmerlein-Verhaltens gilt nicht. Bahros Krebstod und sein Schweigen in der Öffentlichkeit zur Gaskammerfrage, das Abklemmen dessen, was ihm hierzu in der Seele gebrannt haben muß, haben gemeinsame Wurzeln.
Doch weiter im Buch Sloterdijks, der fleißig ohne rot zu werden Sprüche klopft, von wegen: "Es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, harmlos zu sein" –
"Sie müssen Obszönitäten und Dunkelheiten durchforschen" – "gefährliches Denken" – "Denken und Kunst leben in Selbstversuchen"... (S. 120)
Den Mund nimmt er ja ganz schön voll, doch: Wie wär’s mal mit einem wirklichen "Selbstversuch", Herr Sloterdijk? Einen, wo wir die Analyse mal gut sein lassen,
wo wir mal die Synthese machen mit all den Dingen, bei denen es, innen im Selbst und außen in der Welt, um etwas geht?
Vielleicht mal wirklich einen kleinen "gefährlichen Gedanken"? Wie sieht’s aus mit etwas Harm? Ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen, wo Sie sich einmal
wirklich abheben könnten von den "einfachen Linken und Vorsichtsintellektuellen" (S.120) und wirklich am Pranger landen, diesen Selbstversuch einmal am eigenen Leib vornehmen könnten? Holen
Sie jetzt Poona nach!
Da gibt es einen Politologen und soliden, fleißigen Historiker, keinen Intellektuellen, nicht so brillant und mondän wie Sie, der logischerweise auch nicht Ihrer
Generation angehört (denn da gibt es ja wie bereits gesagt nur einen einzigen...), der aber nicht nur "gefährlich gedacht", der seine Gedanken auch – und nicht "für die
Nachwelt", für "irgendwann" – in die Tat umgesetzt, nämlich veröffentlicht hat. Und dafür sitzt dieser 71jährige heute für 15 Monate im Ashram, sprich Knast: "Like Bhudda in
a ten-foot cell, an innocent man in a living hell", wie Dylan singt. Dieser Mann heißt Udo Walendy. Es sitzen noch viele andere im Knast heute in der BRD, weil sie "gefährlich gedacht"
haben; aber wir bleiben bei diesem einen. Ich mache Ihnen den Vorschlag, sich einmal mit diesem Fall Walendy zu befassen und dann nur ein Wort dazu zu schreiben, irgendwas, und dies zu
veröffentlichen. Und was gilt die Wette, Herr Sloterdijk, daß Sie dafür, für diese kleine "Aufgabe des Schriftstellers" nicht den Mut haben? Wir haben in Sleipnir 2/98 zu "Briefen ins Gefängnis" aufgerufen, was für die "Verfassungsschützer" NRWs als ein Zeichen für Rechtsextremität gilt: "Von Strafverfolgung bedrohte Revisionisten sollen durch die Berichterstattung in Sleipnir unterstützt
werden." Als Beweis für Verfassungsfeindlichkeit zitieren die Schützer allen Ernstes folgende Passage des Aufrufs: "Autoren aller Länder, aller politischer oder religiösen Überzeugung
[werden] eingeladen, sich mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung, der Freiheit der Wissenschaft und der Geschichtsschreibung, und selbstverständlich mit den Thesen und der Arbeitsweise Udo Walendys
auseinanderzusetzen." (http://www.verfassungsschutz.nrw.de) Sie, Herr Sloterdijk, werden nicht zu den Teilnehmern zählen; Sie werden in den Blumen lesen und nicht Ihre komische "Obszönität
und Dunkelheit durchforschen" (S. 120), sich nicht hinunterwagen, dorthin, wo es gar nicht so dunkel ist und obszön zugeht; ganz im Gegenteil. Sie werden aber auch in keiner anderen Zeitschrift,
Sie werden nirgends etwas dazu sagen. Im BRD-Psychogramm eines Tages vielleicht werden Sie reumütig jammern.
In dem eingangs erwähnten Gespräch in den Lettres Internationales ist von der "seelischen Revolution" die Rede, und daß "Giordano Bruno höher zu achten ist als
René Descartes", daß es "das Geheimnis Europas sei, daß es das Leben nicht mehr liebt", davon, daß "in dieser Zeit ein solches Übermaß an psychischer Verelendung über die Menschen
in Europa hereingebrochen ist" und daß Bhagwan sich "angeboten hat, eine Art Kulturtherapie für einen vergreisten und sklerotsierten Kontinent zu liefern"; davon, daß es um einen
"Seelenumschwung" geht, "durch den die Menschen sich entirren"; es ist mit Nietzsche davon die Rede, daß "die Europäer sich im Prozeß einer zweitausendjährigen
Selbstvergiftung durch eine widernatürliche religiöse Moral die Liebe zum Leben nehmen lassen" haben; vom Nachkriegsdeutschland als einer "Kultur ohne Projekt", daß er sich "nicht
vorstellen kann, daß es je so flache Menschen gegeben haben soll wie in den deutschen Schulen, den deutschen Medien, den deutschen Parlamenten". Von all dem – von der "psychischen
Hochspannung", vom "Leuchten einer Kultur, die in ihrer eigenen historischen Tiefe schillert", von einem "Leuchtfeuer in der großen Verwahrlosung", wie es der Rezensent in
den Staatsbriefen der frühen 90er wahrgenommen hat – ist leider im "Selbstversuch" kaum etwas zu spüren.
Alles in allem ist "Selbstversuch" von Peter Sloterdijk ein hübsches, schnuckliges, ein interessantes Buch im Sinne der "Zeitdiagnostik", wenn auch nicht
unbedingt freiwillig, wie es sich die Gesprächspartner gedacht haben. Intellektuellen ist das Buch auf jeden Fall zu empfehlen; sie werden voll auf ihre Kosten kommen, großes Vergnügen finden und
sich anregen lassen.
Peter Töpfer
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