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AUTO: Nr. 9
Peter Töpfer: Gegen das Germanisch-Abendländische!
Zu Gottfried Hirzels Aufsatz „Allgemeiner Realitätsverlust im Germanischen Abendland. Ein geistiges Problem und eine drohende Gefahr“, Sleipnir 39
Gottfried Hirzels Aufsatz ist überaus wichtig, und es ist erfreulich, daß er Resonanz hervorrief – zumal positive. Ich
möchte einige seiner Gedanken aufgreifen und sie radikalisieren, um auf dem von ihm eingeschlagenen Weg weiter voranzukommen.
Hirzel schreibt: „Der germanisch-abendländische Mensch (...) nimmt heute für sich selbst und seine Kultur insgesamt sein natürliches Anrecht
auf Entfaltung, Wachstum, Größe, Höhe und Erfüllung seines Daseins als eine real existierende Möglichkeit nicht ernst und für sich in Anspruch.“
Es gibt kein „Anrecht auf“, und sei es „natürlich“. Solange wir ein „Recht“ anerkennen und fertigen, solange wir uns vor wem
oder was auch immer zu rechtfertigen suchen – vor etwas außer und über uns Stehendem, etwas „Göttlichem“ oder einer „Natur“ –, solange sind wir zögerlich, ängstlich, unsere Interessen
wahrzunehmen und zu „realisieren“.
Hirzel: „Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß jeder gesunde Organismus (…) nach Wachstum für sich und seine Art, nach seinem Geschmack,
mit dem Ziel von Steigerung und Vollendung seiner selbst, nach mehr Vollkommenheit, mehr Macht, mehr Höhe, nach der Ausbildung seines gesamten in ihm angelegten Potentials strebt, stellt sich die schwerwiegende
Frage, warum dieses unser ureigenstes Problem im heutigen germanischen Abendland mit der größten Nachläßigkeit und ohne Verlangen nach tiefschürfenden, wahrheits- und wirklichkeitsgemäßen Antworten oder auch nur
Fragestellungen behandelt wird. Dies läßt den Schluß zu, daß mit unserer Weiterentwicklung und unserer germanisch-abendländischen Zukunft etwas ganz grundsätzlich falsch läuft. Es scheint ein Problem vor dem Problem
zu geben.“
Das, was „grundsätzlich falsch läuft“, ist aber gerade, daß wir uns „weiterentwickeln“ und uns mit einem Leben in
einer Zukunft beschäftigen sollen, das noch dazu bereits vorgeschrieben ist („germanisch-abendländisch“); das grundsätzlich Falsche ist die Normierung „gesunder Organismus“, ist das
„Wirklichkeitsgemäße“: Wenn wir „wirklich“ sein wollen, können wir kein Maß hinnehmen, sind wir maßlos. Entweder wir sind wir selbst, oder wir sind „gesund“. Unser „ureigenstes Problem“ ist,
daß wir uns (unser „Ureigenstes“) normieren zu müssen glauben („Gesundheit“), und darin liegt tatsächlich das „Problem vor dem Problem“. Das gilt es auszuräumen, wenn wir das eigentliche Problem lösen, d.h. den Verlust unserer „Realität“ wettmachen wollen.
Und so gehört auch zum „Problem vor dem Problem“, daß Hirzel uns als „Germanen“ und „Abendländer“ verdinglicht; diese
Bezeichnungen transportieren Inhalte, denen gemäß wir uns verhalten sollen und die mehr sind als einfache Bezeichnungen. In dem Moment, wo es um unsere „Verwirklichung“ geht, sind Differenzierungen unnötig,
können sie nur präskriptiv und normativ wirken. Wenn man ganz mit sich selbst und seiner Verwirklichung befaßt ist, schaut man nicht auf „Morgenländer“ oder „Asiaten“.
Hirzel: „So stellt sich zunächst die Frage: Warum befaßt sich der germanisch-abendländische Mensch nicht, wie es normal und angemessen wäre,
mit der Suche nach seinem eigenem Weg in seine Zukunft, Entfaltung, Größe, Höhe, Vollendung, Erfüllung und letztendlicher Zufriedenheit? Wer oder was hindert ihn daran? Welcher Gott hat ihn betört?“
Hirzel scheint sich von Gott „Wissenschaft“ betören zu lassen. Er kritisiert das „Menschenbild im heutigen germanischen Abendland“
als „nicht unser eigenes, sondern [als] ein fremdes, jüdisch-christlich-spätantikes“, das „mehr als 2000 Jahre alt, unrealistisch, jenseitsorientiert, auf einen Gott hin ausgerichtet,
vorwissenschaftlich“ sei und merkt nicht, daß auch sein „Menschenbild“ „auf einen Gott hin ausgerichtet“ ist: die Wissenschaft. Diese zieht er herbei, auf diese beruft er sich, mit dieser
rechtfertigt er sich: Jeder „gesunde Organismus“ strebe „nach Wachstum für sich und seine Art“, und so weiter läßt er sich betören. Solange es uns aber nicht egal ist, wie sich „gesunde Organismen“
verhalten und was Wissenschaftler – und seien es „Humanethologen“ –, von einer „Natur“ zu sagen haben und was sie für „realistisch“ halten, solange leiden wir weiter am Verlust
dessen, was als „Realität“ beschrieben wird, solange sind wir zu ängstlich, einfach wir selbst zu sein und nach unseren Interessen zu leben.
Am Ende gilt es, ganz und gar, auch auf die kritische, denunziatorische Verwendung des Begriffes „Gott“ („Gott ist tot“ usw.) zu
verzichten und den Toren in uns selbst zu benennen. Gott sind wir selbst – nicht im Sinne eines Pantheismus, sondern im Sinn der Aufklärung: Die Toren sind wir selbst. Wenn es darum geht, daß ich ich selber
(„real“) bin, welche Bedeutung mag dann haben, ob es ein Gott war, der mich zum Toren gemacht hat? Einzig wichtig ist, daß ich einsehe, daß ich töricht war, indem ich z.B. auf Wissenschaftler gehört oder die
Mühsal auf mich genommen habe, Recht zu fertigen.
Hirzel: „Seit dem Ende des 2. Weltkrieges herrschen im germanischen Abendland jenseits von aller Gewaltenteilung in Staat und Gesellschaft die
Moral und Moralisten: Schuld, Sühne, Sünde, Sünder, Sündenböcke...“
Diese herrschen nicht nur seit dem Ende des 2. Weltkrieges, sie herrschen schon, glaubt man Historikern, seit einigen
Jahrtausenden. Auch darin liegt das „Problem vor dem Problem“. Hirzel geht nicht genug in die Tiefe, ist nicht radikal genug. „Tiefe“ meint hier aber nicht die historische Tiefe. Radikal ist, wenn es
egal wird, seit wann etwas herrscht – es muß nur weg! Die Ursachen des Problems – des Schuldgefühls –, steckt viel, viel tiefer als in irgendwelchen politischen oder militärischen
Geschehnissen der jüngeren Geschichte, es steckt heute tief in uns – in jedes einzelnen niedrigstpersönlichen Schuld- und anderen Gefühlen, die zwar sicherlich irgendwie mit Politischem in Zusammenhang stehen („Sozialpsychologie“), zu deren Abschaffung der Schlüssel aber nur in jedem Einzelnen und dessen Willens- und Entscheidungskraft bzw. Leidensdruck liegt. Ich persönlich habe mir nie vorgenommen, keine Schuldgefühle mehr zu haben, kenne aber seit den Tagen nicht mehr die Spur von solchen, als ich voller Mitleid mit mir selber über den mir zugefügten Schmerz war. Schlagartig, klar, logisch und endgültig ging mir auf: Warum sollte ich armer Kerl Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen für was auch immer haben?
Hirzel: „Eine solche Selbstverwirklichung des germanisch-abendländischen Menschen muß Innen- und Außenwelt gleichermaßen umfassen: Ein
hochentwickeltes, vollendetes Menschsein für die anspruchsvolle, attraktive Lebenswelt einer germanischen Hochkultur im Abendland.“
Reicht nicht „Selbstverwirklichung“? Warum sollen wir „germanisch-abendländischen Menschen“ sein, warum „hochentwickelt“?
Reicht es nicht aus, wenn wir einfach sind, was und wie wir sind, wie es uns unsere innere Stimme und unsere Gefühle sagen? Warum uns auf etwas festlegen, noch dazu auf Dinge, die ziemlich oberflächlich, nämlich im
Kulturellen liegen? Wozu Normierungen und Vorschriften an der Stelle, wo, wie Hirzel doch anregt, wir unsere verloren gegangene Realität zurückgewinnen sollen? Was ist aber unsere „Realität“ anderes als unsere
Interessen jenseits von irgendwelchen intellektuellen Elaboraten?
Es geht nicht um „Realität“, die nur ein Bild, ein Gedanke sein kann; es geht um uns. Wir müssen wahrnehmen, was wir
wollen, und dann dafür sorgen, daß wir es kriegen. „Realität“ kann dafür nur ein Symbol sein, aber sowie wir unsere Ziele in Symbolen ausdrücken, unterwerfen wir uns schon: hier dem, wofür auch immer
„Realität“ steht. Solange wir überhaupt Notiz nehmen von dem, was andere für „real“ halten, solange sind wir nicht („wirklich“) wir selbst, sondern Gefangene derjenigen, die uns beherrschen und die
andere Interessen haben als wir. Diese von uns verinnerlichten Interessen gilt es durch Wahr- und Annahme auszuscheiden.
Solange wir uns von Vorschriften regieren lassen, solange leben wir für etwas anderes außer uns, einem „höherem Zweck“, dienen wir einer
wie auch immer gearteten, durchaus auch nichtreligiösen Göttlichkeit, unserer „Hochentwicklung“, unserem höheren Ich, unserem „Über-Ich“, nicht aber uns selbst, leben wir nach einem fremden Maß, sind wir
nicht „real“. Wir dürfen aber in Antwort auf unsere Entfremdung nicht im Gedanklichen bleiben, indem wir etwa – als Historiker, Kulturisten oder sonstiger Intellos – eine „jüdisch-christliche
Verwüstung“ denunzieren und für unser Elend verantwortlich machen und dieser das „Abendländische“ oder „Germanische“ entgegensetzen, das aber gleichfalls Vorschrift bleibt, bezieht es sich auch
noch so sehr auf etwas, was uns entsprechen soll, mit dem wir in unserem „Wesen“ gekennzeichnet sein sollen.
Hirzel schreibt, wir würden „ohne Not die erbärmliche Zumutung einer multikulturellen Gesellschaft hinnehmen“ und fragt: „Wo sind die
hellen, wohlgemuten, hochstrebenden germanisch-abendländischen Menschen, die mit einem Ruck all diesen Unrat abschütteln und sich auf den Weg ihrer eigenen Vollendung und Erfüllung für sich und unsere
germanisch-abendländische Kultur machen?“
Die Hinnahme von Zumutungen liegt in der Hinnahme von viel tiefer liegenden Entfremdungen und Normierungen, in der Hinnahme von Vorschriften
schlechthin begründet. Sowie man einmal eine Herrschaft hinnimmt, d.h. einen fremden Willen verinnerlicht, nimmt man oberflächliche Vorschriften – beispielsweise politisch korrektes Verhalten, die Ideologeme
der jeweiligen Herrschaft – erst recht hin. Und dies geschieht dann mitnichten „ohne Not“. Unsere eigene Feigheit nötigt uns, die Angst vor dem Hirten und seinem Hund, wenn wir die Herde verlassen, von
deren Behaglichkeit wir korrumpiert sind.
Wenn wir in unserer Wahrheit leben, d.h. unsere Interessen sinnlich wahrnehmen, sind Gebote der jeweiligen Herrschaft (derzeit Vorschriften des
nach Globalmacht strebenden Bürgertums) zur Wirkungslosigkeit verurteilt: Multikulti muß leider ausfallen. Dies in einer Schnelligkeit und Gründlichkeit, von denen intellektuell-begriffliche Beeinflussungsbemühungen
bzw. alternative Normierungen, die im Gewand der Emanzipation daherkommen, nur träumen können.
Freilich hat eine „Multikultur“ nur dann keine Chance mehr, wenn wir uns nicht auch von der Kultur schlechthin korrumpieren lassen; das
ist der Preis, den die Gegner der Multikultur zu zahlen nicht bereit sind.
Es werden keine „hochstrebenden germanisch-abendländischen Menschen“ sein, „die mit einem Ruck all diesen Unrat
abschütteln“, sondern es werden schlicht und einfach „Egoisten“, oder besser, wie es Max Stirner sagt, „Eigner“ sein, die sich nicht durch Himmelsrichtungen oder Abstammungen, die sich überhaupt nicht definieren.
Der Eigner realisiert seine Interessen; er hält sich nicht damit auf, sich zu bezeichnen.
Hirzel skizziert seine „Lehre zur Entwicklung von Sein und Bewußtsein im germanischen Abendland, welche den germanisch-abendländischen Menschen
einen realistischen Weg in ihre Zukunft weist“: „Die unumgänglichen Mittel dieses Weges sind Selbstreflexion mit dem Ergebnissen Erkenntnis, Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Vollendung unserer
germanisch-abendländischen Identität.“
Würde eine „Selbstreflexion“ bescheidenerweise nicht erst einmal ausreichen, das Sich-finden, Sich-bewußt-werden,
Sich-wahrnehmen, das Wahrnehmen dessen, was man will, das, wenn tatsächlich in der Tiefe und ehrlich betrieben, nur ein erster Schritt vor der Tat, vor wirklichen Veränderungen wäre? Überlassen wir die
„Identität“, gar eine „germanisch-abendländische“, den Träumern.
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