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AUTO: –CHTHON & –NOM Nr. 21, Oktober 2005 – Übersicht –
Rainer Daehnhardt
Schulstunden
Rainer Daehnhardt gibt hiermit die
eidesstattliche Erklärung ab, daß alle angeführten Gegebenheiten sich, seinem Gedächtnis nach, so zugetragen haben, wie er sie hier anführt. Der Grund dieser schriftlichen Stellungsnahme ist die von ihm
erkannte Notwendigkeit, die geschichtliche Wahrheit wiederzugeben, wie sie ihm und allen anderen Schülern damals (1949-1953) von seiner Lehrerin und Schuldirektorin, Annie Hamann, einer Lagerinsassin von
Auschwitz, erklärt worden waren. Somit gibt er hiermit folgendes kund.
Zum besseren Verständnis der Situation des seltsamen, freundlichen Verhältnisses eines „auslandskaiserdeutsch“ aufgezogenen
Schülers evangelisch-lutheranischen Glaubens zu seiner deutschen Schuldirektorin und Lehrerin jüdischen Glaubens muß ich ein paar notwendige Angaben machen.
Ich kam am 7. Dezember 1941 in Wien
zur Welt, wo ich mich jedoch lediglich nur wenige Monate aufhielt, da wir (meine Großeltern, meine Mutter, meine Schwester und ich) den größten Teil des 2. Weltkriegs in Frankfurt am Main verbrachten.
Wir sind Auslands-Kaiser-Deutsche, da meine Familie seit Jahrhunderten in Portugal ansässig ist. Sie gab auch, durch viele Generationen hindurch, sowohl die Kaiserlich-Deutschen als auch die
Österreich-Ungarischen Generalkonsule für den Portugiesischen Hof. Meine Familie paßte sich Portugal an, behielt jedoch immer ihre preußische bzw. sächsische Staatsbürgerschaft. Trotz daß alle meine
Vorfahren seit mehreren Generationen im Ausland geboren sind, haben wir immer das Zusammengehörigkeitsgefühl zu unserer Urheimat, egal ob es schlechte oder gute Zeiten waren, beibehalten. So fiel der in
Lissabon geborene Bruder meiner Großmutter, Eduard Wimmer, 1905 beim Hereroaufstand als Leutnant des Sächsischen Husaren-Regiments Nr. 19 „Königin Carola“ in Deutsch-Südwest-Afrika. So wurde mein
Großvater, Dr. Heinrich Daehnhardt (1876 in Lissabon als Sohn des Kaiserlich Deutschen Generalkonsuls geboren), kaiserlich-deutscher Berufsdiplomat und im 1. Weltkrieg eingezogen, wo er als
Kavallerieoffizier vor Verdun schwer verletzt wurde. 1941 wurde er als Deutscher Generalkonsul in Göteborg entlassen (wo er 13 Jahre lang reichsdeutscher Diplomat war), weil er überführt wurde, in einer
Großzahl von Fällen Norwegern und Dänen, welche über Schweden in Richtung Nord- und Südamerika flüchteten, die dazu notwendigen Reisepässe ausgestellt bzw. abgestempelt zu haben, ohne vorher in Berlin
anzufragen. Er wurde zwangspensioniert, ins Reich zurückbeordert und durfte es nicht verlassen. So zog er zu einem Freund nach Wien, nahm Frau und Schwiegertochter mit, was der Grund für mich wurde, in
Wien zur Welt zu kommen.
Nach dem 20. Juli 1944, während der Verhaftungswelle, wurde er aus seinem Krankenhausbett heraus in Kaltennordheim/Thüringen (in
Frankfurt am Main waren wir ausgebombt worden) zum Verhör mitgenommen, auf Grund dessen er am 7. August 1944 starb. Man hatte ihn an dem Tag, fast tot, wieder im Hospital abgeliefert, weswegen als
offizieller Todestag der 8. August 1944 gilt. Mir ist nicht bekannt, daß er etwas mit der Stauffenberggruppe zu tun gehabt hätte. Er organisierte jedoch 1939 – 1940 in seiner Göteborger Wohnung
mehrere Treffen Deutscher, Schweden und Engländer, meist der Aristokratie angehörender Militärs (oft persönliche Freunde meines Großvaters), deren Grund es war, alles nur erdenkbar Mögliche zu versuchen,
um den Krieg zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich zu beenden.
Meine Großmutter wurde 1885 in Belas, dem Wimmerschen Familiensitz in Portugal, als Tochter des sächsischen Reeders Johannes Wimmer
(K.u.K. Österreich-Ungarischer Generalkonsul in Portugal) geboren. 1913 lebten meine Großeltern als Kaiserlich-deutsche Diplomaten in Konstantinopel, wo mein Vater, der Diplom Kaufmann Claus-Heinrich
Daehnhardt, zur Welt kam, was lediglich auf der Botschaft registriert wurde.
Er wurde als Auslandsdeutscher im 2. Weltkrieg eingezogen, wurde im Kaukasus schwer verletzt, fiel in sowjetische Gefangenschaft, aus
der er sich selbst befreite und zu deutschen Linien zurückfand, danach in Frankreich eingesetzt und geriet, Ende 1944, in amerikanische Gefangenschaft. Als diese ihn 1946 an die Sowjets ausliefern
wollten, da unser letzter Wohnsitz in Thüringen war, entronn er zu Fuß und erschien, nach seiner Familie suchend, am früheren Wohnsitz in Frankfurt am Main. Offiziell war er als gefallen gemeldet worden,
woran meine Mutter jedoch nicht glaubte. So kritzelte sie mit einem Nagel an den noch stehenden Postkasten der Ruine unseres ausgebrannten Hauses (Wöhlerstraße 9) die Adresse in Oberursel, wo man uns
(inzwischen aus Thüringen nach Amerikanisch-Hessen geflohen) zwangseinquartiert hatte. Wir zogen von dort nach Schwanheim, wo ich zur Schule kam, und 1949 wieder nach Frankfurt am Main.
Man hatte uns den „DP“-Stempel für „DISPLACED PERSON“ in unsere Papiere geschlagen, weil keiner von uns direkt aus
Deutschland kam, und wir bis 1949 keine Erlaubnis erhielten, nach Portugal zurückzukehren.
In den völlig überfüllten staatlichen Schulen Frankfurts gab es keinen Platz für „Nicht aus der Gegend Stammende“. So kam ich in
die ANNIE-HAMANN-SCHULE, die auch oft die Deutsch-Jüdische-Schule genannt wurde, eine Bezeichnung, welche die Direktorin nicht haben wollte.
Offiziell hieß sie „Privater Schulzirkel von Annie Hamann-Schnapper“, Frankfurt am Main, Telemannstraße Nr. 13. Anbei Kopie
meines Abgangszeugnisses, von Annie Hamann am 20.3.1953 unterschrieben. Auf diesem schrieb sie: „Rainer war mir in den über drei Jahren, die ich ihn unterrichtete, durch seinen Frohsinn stets ein lieber
Schüler, dem ich für sein Fortkommen von Herzen alles Gute wünsche.“ Annie Hamann war eine stattliche, große, gut aussehende Dame, die Charakterstärke ausstrahlte. Sie hatte es auf sich genommen,
eine Schule für „Nicht-in-staatliche-Schulen-Aufgenommene“ zu errichten. Eine Zeiterscheinung, die nur durch guten Willen gelöst werden konnte. Annie Hamann hatte diesen guten Willen! Sie war
Deutsche, und sie war Jüdin. Was dabei bei ihr zu erst kam, weiß ich nicht, spielt auch keine Rolle, da sie der lebende Beweis davon war, daß beide Herkünfte auch harmonisch zueinanderfinden können.
Die Schüler, welche sie aufnahm, waren ein buntes Gemisch, das sich hauptsächlich aus drei Gruppen bildete: Westjuden, Ostjuden und
Christen. Wenn man die beiden ersten Gruppen zusammenzählt, kam man, in etwa, auf eine gleiche Zahl wie die der Christen. Annie Hamann machte nie einen Unterschied zwischen Juden und Christen in ihrer
Behandlung der Schüler, außer im Religionsunterricht. Dieser war strikt getrennt. Es gab oft große Streitigkeiten zwischen den Schülern. Fast immer jedoch zwischen West- und Ostjuden, sehr selten
zwischen Juden und Christen und wenn, dann zwischen Ostjuden und Christen. Mir viel auf, daß die Westjuden meist den Christen näher standen als den Ostjuden, und ich fing an, Fragen zu stellen. So lernte
ich den Unterschied zwischen Sefarditen, die wir meist Westjuden nannten und die (ihrer Ansicht nach) die einzigen wahren Juden waren, weil mit dem aus Judea kommendem Stamm blutsverwandt, und den
Khasaren, den Ostjuden, eines Nomadenstammes aus den Steppengebieten westlich des Urals, der, aus dem Zwang, zwischen Islamisierung und griechisch orthodoxer Christianisierung wählen zu müssen, von sich
aus sich als Hebräer bezeichnete. Weiter fiel mir auf, daß es schon in bezug auf die Priorität ihrer Heiligen Schriften Unterschiede gab. Während sich die Westjuden an das Alte Testament, die Tora und
das Buch von Esther hielten, war den Ostjuden der Talmud das Wichtigste.
Dies brachte es zu Reibereien einige der ostjüdischen Schüler mit unserer Direktorin, Annie Hamann, die Sefarditin, also
Westjüdin war.
Ein mich damals aufrüttelnder Fall war der eines aus Polen stammenden Ostjuden, der systematisch log. Man durfte ihn nichts fragen! Selten gab er eine Wahrheit als Antwort! Selbst
bei lächerlichen Sachen, wie: was sind unsere Hausaufgaben?, kommt ein Mitschüler heute?, oder wie wird eine Rechenaufgabe gelöst? All zu häufig log er! Dies brachte Ärger, welcher dermaßen anschwoll,
daß seine unverschämte Lügerei Annie Hamann als Klassenbeschwerde vorgetragen wurde.
Diese nahm ihn vor die Klasse, verbot ihm das Lügen und drohte ihm böse Strafen an. (Sie war sehr gerecht, wußte aber, wann notwendig,
auch ernsthaft zu strafen!) Er dachte, seine Welt stürzt zusammen! Er fing an zu heulen und sprach nur auf jiddisch weiter (unsere offizielle Sprache war nur deutsch, jedoch sehr häufig sprachen die
Juden jiddisch untereinander; ich sprach zwar kein jiddisch, jedoch wenn man Jahre unter jiddisch sprechenden Mitschülern verbringt, fängt man an, auch dies zu verstehen). Er sagte, wir seien doch nur
„Goyim“ (menschliches Vieh), und das sollte man doch anlügen! So hätten ihn seine Eltern erzogen, und so müßte er es auch machen, und wenn Frau Hamann dies nicht einsähe, dann sei sie auch keine
gute Jüdin!
Dies war ihr nun zu viel! Sie antwortete ihm auf jiddisch, aber wir alle verstanden es. Sie verlangte von ihm, daß auf ihrer Schule
die Wahrheit zu sprechen sei und wenn er dies nicht einsehe, es keinen Platz für ihn gebe. Sie schickte ihn wütend nach Hause, damit er sich überlege, ob er die Wahrheit sprechen und weiter in der Schule
sein wolle oder nicht. Wir hörten später, daß sie seine Eltern in die Schule beordert hatte. Wie das Gespräch verlief, wissen wir nicht. Tatsache ist, daß er einige Tage fehlte, dann jedoch neu erschien.
Es schien, als ob die Eltern versucht hatten, ihn sonst irgendwo unterzubringen, dabei jedoch erfolglos waren und ihn deshalb zurückbrachten.
Er schnitt daraufhin alle Christen und Westjuden,
blieb jedoch weiter ein aufrührerisches Element in unserer Klasse. Er war zwar der Ostensivste, jedoch nicht der einzige Lügner in meiner Klasse, mehrere andere standen diesbezüglich auf seiner Seite,
wodurch das Zusammenleben nicht einfach war.
Für mich war es ein Schock, erkennen zu müssen, daß es Menschen gab, die ihre Kinder zum Lügen erzogen. Meine preußische Erziehung bestand darauf, daß
die Wahrheit gesagt werden mußte, egal wie unangenehm diese auch sei.
Der immer freundliche und schlichtende Zentralpunkt war immer Annie Hamann, eine gute Seele, für die ich Zeit meines Lebens
nur hohe Achtung verspüre!
Ein Tag brachte einen gewaltigen Schock, der uns letztendlich zusammenführte. Ich stand an der Tafel und schrieb mit Kreide eine
Aufgabe. Frau Hamann stand hinter mir, also direkt vor der Klasse, und gab die Stunde. Ein Lümmel stand, aus Strafe, gleich rechts von mir, an der Tafelecke. Obwohl er den Befehl bekommen hatte, gegen
die Wand zu schauen, machte er, hinter dem Rücken der Lehrerin, dumme Grimassen und Faxen mit Zeichensprache. Frau Hamann merkte dies natürlich. Es war ihr einfach zu viel, und sie holte aus, um ihm
kräftig eine Backpfeife zu verpassen. Er, frech und windig wie immer, duckte sich, und ich, nichtsahnend, mit dem Rücken zu allem Geschehen an der Tafel schreibend, erhielt auf einmal eine Watschen, daß
ich mich direkt im Kreis drehte.
Dies kam völlig unerwartet! Ich hatte nichts getan, was eines solchen Angriffs würdig wäre! Ich dachte gar nicht nach, sondern reagierte sofort. Heutigen
Generationen mag dies seltsam vorkommen. Wir waren jedoch Überlebende der Nachkriegszeit, diese war oft nicht einfach. Selbstverteidigung war Grundbedingung des Weiterlebenkönnens! So gab es bei mir
keine Überlegungen, ich schlug einfach zu! Meine geballte kleine Faust mit aller Kraft direkt gegen den riesigen Körper vor mir, der mich „angegriffen“ hatte. Ich traf Annie Hamann mit solcher
Stärke, daß sie nach hinten umkippte, zusammenklappte und verzweifelt nach Luft japste!
Etwas sehr Schlimmes war passiert! Ich kam mir nicht als Held vor, jedoch auch nicht als Angreifer. Ich
wußte gar nicht, was ich machen sollte. Alle bemühten sich um sie. Ich lief in die Küche und brachte ihr ein großes Glas Wasser. Sie lag immer noch auf dem Boden, in sich stärkender Verzweiflung, weil
sie immer noch nach Luft rang. Andere Lehrer wurden gerufen. Ich wollte ihr das Wasser geben, was sie jedoch nicht annahm, so besprenkelte ich ihr Gesicht mit Wasser.
Langsam, ganz langsam, kam sie wieder zum Atmen und gab röchelnde Laute von sich. Die anderen Lehrer hoben sie auf einen Stuhl. Alle
waren entsetzt! Nun gab ich ihr das Wasser, welches sie auch akzeptierte. Dann kamen ihre ersten Worte: „Rainer! Du bleibst heute hier!“ – Das war so ziemlich das schlimmste was man hören
konnte! –
Mir schwebte vor, was ich zu erwarten hätte. Wenn ich nur zehntausend mal schreiben müßte: „Du sollst die Direktorin nicht
zusammenschlagen!“, hätte ich wohl noch Glück gehabt. Es könnte wohl noch viel Schlimmeres kommen. Ich wußte gar nicht, was. So etwas war ja auch noch nie vorgekommen. Damals schlugen Schüler nicht
auf Lehrer. Im Grunde war ich jedoch heilfroh, daß sie noch lebte. Erstens war sie ein netter Mensch, und zweitens hatte ich ja gar nicht vorgehabt, sie ins Jenseits zu befördern. Bei Schulschluß
bedauerten mich manche, andere schauten schadenfroh zu, wollten auch gerne wissen, was denn nun mit mir passieren würde.
Als wir allein waren, rief mich Frau Hamann. „Rainer, was ich Dir jetzt sage, bleibt unter uns! Verstanden?“
„Ja!“
„Zu allererst muß ich Dich nämlich um Entschuldigung bitten, weil ich Dir eine runtergehauen habe! Du warst aber gar nicht gemeint!
Dies ist aus Versehen, aus reinem Pech für Dich, passiert! Dies gibt Dir aber nicht das Recht, mir dermaßen in die Magengrube zu boxen! Ich dachte wirklich, es wäre aus mit mir! Hast Du das
verstanden?“
„Ja! Ich wollte Sie ja auch gar nicht schlagen! Das war nur so ’ne Reaktion von mir! Ich bitte Sie dafür um Entschuldigung! Mir
ist ein Stein vom Herzen gefallen, als Sie wieder atmen konnten! Ich wollte gar nicht, daß so etwas passiert!“
„Na, ist schon gut! Das verstehe ich auch so! Du mußt aber sehen, daß ich, als Leiterin dieser Schule, nicht zulassen kann, daß hier
jemand zusammengeschlagen wird! Deswegen mußtest Du hier bleiben.“
Dann sagte sie: „Weißt Du was? Ich habe hier ein Buch, wo ich die Arbeiten, welche in der Schule hervorkommen und für mich von
Interesse sind, eintrage. Du hast doch neulich einen Hausaufsatz geschrieben [über Taschengeld], der mir so gut gefiel [ich erinnere mich an ihn, er endete mit meiner Selbstanalyse: „Ich Esel!“]
– schreib ihn mir doch bitte in mein Buch [drei oder vier Seiten, gar kein Problem!]. Danach kannst Du nach hause gehen. Sage jedoch bitte niemandem, was wir hier besprochen haben und daß Du keine
Strafe erhalten hast! Dies bleibt lediglich unter uns beiden! Verstanden?“
„Ja, und nochmals entschuldigen Sie mich bitte!“
„Schon gut! Nun schreib schön und geh nach hause!“
Ein Geheimnis, nur unter uns! Eine beidseitig ehrbare Lösung! Wir wurden gute Freunde! Keiner meiner Klassenkameraden erfuhr, was mir
passierte. Manche wunderten sich jedoch über das freundliche Verhältnis, welches, von da an, zwischen der Direktorin und mir bestand. So wurde ich zu einer Art Klassensprecher, obwohl es bei uns damals
diesen Begriff eigentlich noch nicht gab. Jedesmal, wenn in der Klasse etwas sensible Fragen auftauchten, wurde ich dazu genommen, diese der Direktorin vorzutragen.
Eines Tages kam einer der Schüler mit einer gehörten Geschichte, daß sechs Millionen Juden umgebracht worden seien. Ein anderer sagte,
das wüßte er schon längst, es seien jedoch elf Millionen, und allein in einem KZ Auschwitz seien davon der größte Teil grausigst gestorben, das wüßten jedoch die meisten Deutschen nicht, weil es vor
ihnen geheim gehalten worden sei. Zu diesem Zeitpunkt betrat Annie Hamann die Klasse. Sie wurde richtig wütend und sagte (in etwa): „Laßt das! Was soll dieser Schmarren! Das ist FEINDPROPAGANDA!“
Daraufhin ging sie zum Katheder und lud dort ihr mitgebrachtes Buchpaket ab. Danach drehte sie sich zur gesamten Klasse herum und
sagte: „ICH WAR IN AUSCHWITZ! ICH WILL SO WAS NICHT HÖREN! DAS SIND VOM FEIND VERBREITETE LÜGENGESCHICHTEN!“
Dann passierte etwas Erschreckendes, was ich nie vergessen kann: Sie zog ihren Ärmel nach oben und sagte: „Hier, seht! Das ist die
Nummer, die man mir eingraviert hat!“ Und wir sahen die Nummer. Eine lange Zahl, die man ihr, wie einem Stück Vieh, auf ewig in die Haut gebrannt hatte. Wir waren alle erschüttert. Keiner wagte es,
noch ein Wort zu sagen. Sie rollte ihren Ärmel wieder runter und sprach dazu kein weiteres Wort.
Einige Tage darauf kam einer mit detaillierten Geschichten, wie man die Leute umgebracht hätte. Er sagte, daß sie splitternackt in
große Lagerräume gebracht worden seien, wo sie auf Metallplatten stehen mußten, in welche dann starke Stromstöße hineingejagt würden. Die Leute sollen noch verzweifelt herumgesprungen sein, bevor sie
alle tot umfielen.
Ein anderer brachte eine verschiedene Version. Man hätte die Leute in Brausebäder zum Duschen geführt und dann aus den Duschköpfen Gas
strömen lassen, so daß alle tot umfielen.
Andere Schüler kamen mit Geschichten, daß man die Toten gekocht hätte, um aus ihnen Fett zur Seifenherstellung zu gewinnen. Die
Gerüchte wurden täglich schlimmer, und viele Schüler fragten ihre Eltern. Diese wußten meist nichts Genaues darüber, hatten jedoch auch schon so manches grausige Gerücht gehört. So kam es dazu, daß meine
Klassenkameraden von mir verlangten, daß ich unsere Direktorin, Annie Hamann, um Erklärung dazu bat.
Sie ließ deswegen eine Schulstunde ausfallen und erzählte uns über die KZs. Annie Hamann erklärte uns, daß die 1933 an die Macht
Gekommenen sich von Anfang an im Kriegszustand mit den von ihnen als Gegnern bezeichneten befanden. So wurden viele Menschen abgeführt und heimlich umgebracht. Daraufhin verließen viele das Reich. Andere
wußten nicht, wohin, und wurden immer verzweifelter, weil sie Berufsverbot erhielten und manchen sogar ihre Besitztümer beschlagnahmt wurden.
Am Anfang ging es nur gegen Kommunisten, Sozialisten, Bankiers, Börsenmakler und Wechselstubenbesitzer. Auf die Dauer kamen aber immer
weitere Menschengruppen dazu, so daß große Arbeitslager für Verhaftete eingerichtet wurden. Diese Lager waren immer in Fabriknähe, damit die Arbeitsfähigkeit der Insassen benutzt werden konnte. Es gab
auch viele in den Lagern, die nur dort gelandet waren, weil sie jüdischen Glaubens aufgezogen worden waren. Das Leben in den Lagern war erträglich; für die, welche arbeiten konnten, wurde es jedoch zum
Verderben, wenn man erkrankte. Annie Hamann war erst in einem anderen Lager, bevor sie nach Auschwitz kam, und erzählte uns, wie im Leid so mancher Mensch zur grausigen Bestie wurde, sich andere jedoch
als wertvolle heraushoben. Sie sprach von der Angst, daß jemand krank eingeliefert werde und schnellstens alle ansteckte. Wanzen, Läuse, Gelbfieber, Typhus – alles waren tödliche Gefahren. Und man
starb! Man starb nicht nur verzweifelt und allein, irgendwo zur Arbeit eingesetzt, aus Unterernährung, Traurigkeit und Kälte, sondern auch, zu Hunderten und Tausenden, bei den großen Epidemien, die über
die Lager hereinbrachen. Man starb auch unter den Bombardierungen und den durch Saboteure versauten, immer zu wenigen Lebensmitteln. Sie sprach von dem großen Leid, den diese Zeit für alle Völker
gebracht hatte, und von ihrer Hoffnung, daß das Wissen darüber mithelfen würde, Ähnliches, in der Zukunft, vermeiden zu können.
Sie sprach von der fanatischen Verfolgung von Massen von Unschuldigen, die nichts mit Krieg oder Politik zu tun gehabt hatten, und als
Sklaven zum Schuften verwandt wurden. Sie sprach aber auch von den schönen Momenten, die sie in Auschwitz erlebte. Sie half im Hospital Hunderten von Babies, zur Welt zu kommen. Sie gehörte zu einem
kulturellen Kreis, der Vorstellungen mit Chören und Musikinstrumenten vor den Lagerinsassen abhielt, was diesen Freude brachte.
Sie sprach von Diebstahl und Mord, von Freundschaft und gegenseitiger Hilfe. Auschwitz war eine Welt für sich, mit eigenen Regeln,
Himmeln und Höllen. Wir hörten tief mitgenommen zu, und ich zumindest vergaß es nie! Was sie uns erzählte, hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem gemein, was man durch Hollywood später aufzuschwatzen
versuchte.
Einige Wochen danach kam unter uns Schülern eine neue wichtige Frage, die sich auf Auschwitz bezog. Ich erinnere mich, daß ich gebeten
wurde, auch diese Frage an Frau Hamann zu stellen, weil sich die anderen Schüler schämten. So sagte ich ihr, daß Schüler die Nachricht mitgebracht hatten, daß in den KZs viele Vergewaltigungen
stattgefunden hätten.
Sie ließ erneut den Unterricht fallen und fing an zu erzählen. Sie sagte, das sei eine Tatsache. Eine Gefahr, die vor allem alle
Mädchen und jungen Frauen dauernd mit sich herumgetragen hatten. Sie erzählte von einem Vater, der seine beiden Töchter zur Arbeit außerhalb des Lagers mitnahm, mit ihnen zusammen einen hohen Felsen
erklomm und in den gemeinsamen Tod sprang, nur damit sie der Gefahr der Vergewaltigung und Entehrung nicht ausgesetzt seien. Dann sagte sie aber etwas, was mir merkenswert erschien: Diese
Vergewaltigungen waren aber nie von den deutschen Wachsoldaten begangen worden. Mit diesen wäre sie immer gut ausgekommen. Manche halfen sogar und verschenkten kostenlos kleine Chininquantitäten, in
etwas Papier verpackt, um Kranken oder denen Helfenden beizustehen. Nein, die Vergewaltigungen kamen immer durch die KAPO, damit meinte sie die Kamppolizei. Bei dieser handelte es sich jeweils durch den
Rat der Ältesten unter den Juden ausgewählte Männer (meist Ostjuden), die, leider all zu oft, ihrem Haß gegen Andersrassige und in manchen Fällen sogar verbrecherischen Instinkten freien ungehemmten Lauf
ließen.
Als Schüler sie auf spezielles Leiden der Juden hinwiesen, sagte Frau Hamann: „Wir haben dort alle gelitten, egal wer wir waren! Sogar
das Wachpersonal. Viele von ihnen und ihren Familienangehörigen sind auch an Epidemien und selbst an Unterernährung gestorben!“
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