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AUTO: -CHTHON & -NOM – zurück zum Leitartikel AUTO 22 – Nr. 22, Februar 2006
„Die Juden schauten mit großen Augen auf die nicht-jüdische Entwicklung, auf die Philosophie der Aufklärung“
Im Deutschlandfunk wurden vom im Januar 2006 in der vormittäglichen Sendereihe „Tag für Tag“, der dreiteilige Beitrag „Jüdisches Geistesleben in Deutschland“1 von Günther B. Ginzel (im Gespräch mit Redakteur Achenbach) gebracht, der zu der Hoffnung berechtigt, daß es in Deutschland wieder zu einem Aufklärungsschub kommen wird. In der Tat wurde dort ein eindeutig positiver Bezug auf die durch die Aufklärung ermöglichte geistige und soziale Emanzipation der Juden genommen. Es bleibt zu wünschen, daß die aufklärungsbejahenden Impulse in den jüdischen Gemeinden Wirkung erzielen, das Judentum nicht länger mit Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender in Zusammenhang gebracht wird und sich statt dessen rege an der Öffnung der Geister und der freien Kommunikation in Europa beteiligt. Möge das Judentum weiter auf dem Weg vorankommen, sein orientalisch-antiaufklärerisches Erbe zu überwinden.
In der genannten Sendung sagte Günther B. Ginzel insbesondere:
„Die jüdische Aufklärungsbewegung war eine direkte Folge der nicht-jüdischen Aufklärungs- und Emanzipationsbewegung. (…) Die Juden hatten überhaupt
keinen Anschluß mehr an die allgemeine kulturelle Entwicklung. (…) Die Juden schauten mit großen Augen auf die nicht-jüdische Entwicklung, auf die Philosophie der Aufklärung. (…) Es gab ein geistiges
jüdisches Getto: Engstirnigkeit, erstarrter Traditionalismus, Rabbinismus der primitivsten Art. (…) Viele Juden hatten das Gefühl, daß sie dadurch in eine erbärmliche Situation eines geistigen Gettos
geraten sind. (…) Das Jüdische war der Aberglaube, das Festhalten an der vorchristlichen Situation. (…) Die Juden sagten: ‚Oh weh! Unsere Gottesdienste: gräßliches Gebrüll!’ (…) Es ist
wichtig für die historische Wahrheit: Die Einladung [zur Öffnung] kam von aufgeklärten Christen! Es waren aufgeklärte Christen, die in diese Welt [des Gettos] schauten und sagten: ‚Mein Gott, wie leben hier
einzelne Menschen! Die Leute sind ja hinterm Mond; wir müssen sie erziehen, und wir müssen sie als gleichberechtigte Partner ernst nehmen.’ Juden griffen das begeistert auf und begannen zu experimentieren,
und nun begannen viele Reformen. Sie sagten: ‚Wir brauchen neue, freiere, gegenwartsbezogene Erziehungsmethoden! Wir sind Bürger in den Ländern, in denen wir leben!’“
Wir erlauben uns an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß die Aufklärer keine Christen waren und daß die Aufklärung eine Wiedergeburt des europäischen
Heidentums und gerade die Befreiung vom Christentum darstellt. Weiter Günther B. Ginzel im Deutschlandfunk:
„Diese Forderungen machen Angst: große innerjüdische Auseinandersetzungen! – Es war der Aufschwung hinein in die deutsche Kultur, die ja eine
deutsche kulturelle Blüte, eine philosophische Blüte, eine literarische Blüte war. Juden holten nach: lernten, lernten und wurden Teil dieses Ganzen, und mit den wachen Augen derer, die neu dazukommen, die mit
Begeisterung sahen und es als Geschenk empfanden, in die Nation der Lernenden und Wissenden aufgenommen zu werden.“
Und so möchten wir die Juden heute erneut einladen, Teil unserer aufgeklärten Nation zu werden und sich nicht länger im Getto und hinter aufklärungsfeindlichen
Sondergesetzen zu verschanzen.
Deutschlandfunk-Redakteur Achenbach wies auf die großen Fortschritte bei der
Gleichstellung der jüdischen Mitbürger – besonders vor dem Gesetz – im aufgeklärten Europa hin, hinter das wir im Moment aufgrund von Sondergesetzgebung und positiver Diskriminierung leider wieder weit
zurückgefallen sind:
„Durch Napoleon kam es in großen Teilen Deutschlands zur Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetz. Auch in Preußen durch das sog.
Emanzipationsgesetz.“
Dazu sagte Günther B. Ginzel:
„Das hatte bei den Juden eine große Begeisterung, einen großen Patriotismus – preußischen Patriotismus und später deutschen Patriotismus – und
Dankbarkeit ausgelöst. (…) … und wir haben auf der anderen Seite das reformatorische Judentum, das zunehmend den Geist der Zeit widerspiegelt, vor allem auch mit der Übernahme des Deutschen in den
synagogalen Gottesdienst, der ganz neuen Form von synagogaler Musik, die sich sehr stark auch an dem protestantische Vorbild orientiert – die Orgel wird eingeführt –, und dieses Judentum
repräsentiert nun die aufstrebende, assimilierte, emanzipierte Schicht des deutschen Judentums (…), und es entsteht etwas ganz Verblüffendes: Gerade dieses sich nun so sehr erst als preußisch, dann als
deutsch empfindende Judentum beginnt nun in der Tradition des ständigen Anpassens und Nachdenkens in der Hochphase ihrer Situation um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts in der Weimarer Republik sich zu ihrem
orientalischen Erbe zu bekennen. Es ist dieses assimilierte deutsche liberale Judentum, das nunmehr einen Synagogenbau betreibt, der bereits auf dem ersten Blick sich unterscheidet von Kirchen, von sozusagen
deutscher Kultur, der ganz bewußt das Maurische nachmacht, in Berlin, wo es heute eines der wichtigsten Wahrzeichen ist in der Oranienburger Straße: Küppelchen, Minarette, Maurisches… – man hatte so
viel Selbstbewußtsein als Religion und als emanzipierte Staatsbürger, daß man das religiös Eigenständige auch nach außen im synagogalen Bau dokumentieren konnte.“
Nur in Freiheit werden die Juden Teil eines freien und aufgeklärten Europas werden. Dennoch betrachten wir die Hinwendung zum Orientalischen der assimilierten
deutschen liberalen Juden kritisch. Diese zeigt uns, wie schwer es ist, den Fundamentalismus hinter sich zu lassen. Dieser Hinwendung muß eine Teilverantwortung für das Entstehen eines antisemitischen Regimes im 20.
Jahrhundert auf deutschem Boden gegeben werden.
Achenbach erinnert auch an die gegenteilige Tendenz bei Juden in Deutschland und den Begriff des „jüdischen Stammes“, der in der Kaiserzeit aufkam und
den es bis 1933 gab. Man habe versucht, innerhalb der deutschen Nation einen Stamm zu bilden so wie die Bayern, Sachsen usw. Das erinnert an den Vorschlag Henryk M. Broders, der das Bundesland Schleswig-Holstein
Juden zur Ansiedlung freigeben möchte, die beim Untergang des zionistischen Gebildes im Nahen Osten eine neue Heimat benötigen werden.2
1 Deutschlandfunk, Vormittagsprogramm, Sendung „Tag für Tag“, Beitrag „Jüdisches Geistesleben in Deutschland“, drei Teile vom 03.01.2006 bis zum 04.01.2006 von Günther B. Ginzel (im Gespräch mit Redakteur Achenbach),
=>, Günther Bernd Ginzel ist Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische
Zusammenarbeit in Köln.
2 Henryk M. Broder, Gebt den Juden Schleswig-Holstein!, Der Spiegel, 9. Dezember 2005
=>
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