Mir geht es bei diesem Zitat nicht um „Energiefunktionen” und nicht um „funktionelle Einheit”, sondern nur um den letzten Teil des Satzes: „... in
der alle Widersprüche aufgehoben sind“.
Es geht um nichts weiteres als die Erlösung von all unseren inneren Qualen und Konflikten. Es geht darum, daß wir angstfrei, unverklemmt und
aufgeschlossen auf die Welt zugehen. Und das in voller Eindeutigkeit. Die Lebensangst muß vollständig aus uns ausgemerzt werden, und die Lebenslust muß den Sieg davon tragen! (Das Ausmerzen geht freilich nur über
die totale Anerkenntnis der Angst.)
Wenn die Lebenslust und die Eindeutigkeit sowohl der Wahrnehmung meiner selbst als auch meiner Handlungen das Ziel ist – und dieses Ziel
hatte der Psychiater Wilhelm Reich im Ansatz –, dann brauche ich keine Kenntnis von einer „Energie“, dann brauche ich nur Kenntnis von mir selber: dann brauche ich meine Wahrheit: das unmittelbare
Wahrnehmen meiner selbst und meiner Bedürfnisse und das Wahrnehmen der Welt.
Der wichtigste der Fehler Wilhelm Reichs war, daß er, der doch sehr weit in diese unmittelbare Wahrheit hinabgedrungen ist, nicht wirklich
bis auf den Grund der Emotionen (die die Wahrheit ausmachen) getaucht ist.
Es geht nicht darum, daß eine Energie unseren Bedürfnissen, Trieben und Handlungen zugrunde liegt; es geht darum, daß wir einfach so sind, wie wir
sind.
Sicherlich hat Wilhelm Reich hierzu Großartiges geleistet, aber er hat diese Energie – deren Art, deren Eigenschaften im Sinne der Physik
– in den Mittelpunkt gestellt, anstatt ausschließlich unser unmittelbar erlebtes Schicksal.
Wilhelm Reich war mit seiner – wie er es nannte – „funktionellen” Herangehensweise ein großartiger Wissenschaftler: Er fragte
immer danach, was wirklich in den Dingen vor sich geht, was sie antreibt, worum es wesentlich in ihnen geht, was sie suchen, wonach es ihnen verlangt. Das Wesentliche waren nicht die Strukturen und
nicht die chemischen Beschaffenheiten der Dinge, nach denen Millionen von kleinkarierten Wixenschaftlern suchen, sondern das, was in ihnen etwas will.
Aber nicht nur die alberne, verachtenswerte und total blinde Wixenschaft ist sowieso der Holzweg – auch die funktionelle, wenigstens
faszinierende und wahrhaftigere Wissenschaft eines Wilhelm Reich ist der Holzweg!
Das Blau am Himmel ist keine „Energie“ – es ist einfach Blau. Oder schön! Wir erfreuen uns einfach an ihm oder auch nicht.
Während Wilhelm Reich das Leben unter energie-physikalischen Aspekten betrachtete, blieben seine Patienten weiter auf ihren tiefen ungelösten
emotionalen Konflikten sitzen.
Die „Orgonphysik“ stellt eine einzige Flucht vor der Wahrheit, vor den wahren Emotionen dar. Reich ist vor dem Subjektiven, vor dem
unmittelbar Erlebten, dem – wie die Philosphen sagen – nur phänomenologisch Artikulierbaren geflüchtet in das Objektive und Mittelbare. Nicht um „Energie“ geht es, sondern um unser direkt gefühltes
In-der-Welt-Sein, unser Wahrnehmen von uns und der Welt – um die nackte Wahrheit.
Wilhelm Reichs Patienten mußten entfremdet bleiben, weil das Ziel nie wirklich darin bestand, sie voll in diese Welt hinaus zu entlassen, in die
Einsamkeit, in das totale Alleinsein mit sich, seinen Gefühlen und der Welt: die Entlassung in die totale Freiheit und Verantwortung. Statt dessen stand er an seinen Mikroskopen, Wolkenbrechern, Vakuum-Röhren,
Orgon-Strahlern usw.
Selbstverständlich glaube ich, daß Reich Hurrikane umleiten bzw. abschwächen konnte, daß er Regen machen oder abstellen konnte. Aber das ist, wenn
man einmal erkannt hat, was die Dinge antreibt und wie sie funktionieren, nur ein Kunststück. Es ist nicht nur bloß ein Kunststück – es ist auch absurd. Reich wollte – wie man heute sagt
– „die Selbstheilungskräfte der Natur stärken“, er wollte der Natur helfen, „wieder in geordnete Bahnen zu kommen“. Das ist vielleicht löblich, aber vergeblich und umsonst. Wenn man schon Mitleid
mit der Natur hat, dann soll man sie sich selber überlassen.
Sein Anspruch beim Heilen seiner Patienten war der, daß diese sich wieder „selbst regulieren“, wie er es nannte. Das hieß, daß sie ihrer
wahren tiefen Bedürfnisse bewußt werden und gemäß diesen Bedürfnissen leben, daß sie von diesen Bedürfnissen getragen werden und sich im Auf & Ab der Bedürfnisse und Befriedigungen mitreißen und treiben lassen
wie Wellenreiter.
Aber der Weg dorthin – der Königsweg im Gegensatz zum orgonomischen Holzweg – ist die direkte Zurückführung auf die primären Emotionen
und Bedürfnisse, wie sie sich in den Einzelnen als deren jeweilige Wahrheit darstellen. Es ist die Freiräumung der Lust von der Angst. Die Angst hindert uns daran, frei und befriedigt in der Welt zu sein.
Wenn wir wirklich sagen, wovor wir Angst haben, wenn wir erkennen, warum wir Angst haben, wenn wir die Ursache der Angst in Verletzungen und der Befürchtung der Wiederholung dieser Verletzungen erkennen; wenn wir
diese Angst erkennen und im Moment ihrer Wahrnehmung diese Verletzungen verschmerzen und endlich wirklich vergangen machen, d.h. dem Nichts übergeben, dann können wir uns wieder ganz der Lebenslust hingeben und – wie es Reich sagen würde – „im Orgonozean dahinströmen“.
Wir müssen unserer Angst unsere ganze Wut entgegenstellen! Schluß mit der Einschüchterung, der Verklemmung! Wie lange wollen wir noch ängstlich
sein? Die Wut mobilisiert große Lebensenergien und macht dich selbstbewußt.
Bei der Zurückführung auf die primären Bedürfnisse wäre der Wegfall aller sekundären Bedürfnisse, die unsere „Konsumgesellschaft“ ausmachen
und zur Ramponierung der Erde mit ihrer Atmosphäre führen, nur ein Nebeneffekt. Erst wenn wir wieder vollständig „egoistisch” werden, gemäß unserer Natur und Natürlichkeit leben, ordnen wir uns wieder
in die Natur als ein Teil dieser ein.
Aber das sind schon wieder Holzweg-Gedanken! Die „Natur“ muß uns völlig egal werden, und das nicht aus dem Grund, daß wir ihr mit unserer
absoluten Gleichgültigkeit am besten helfen, sondern weil es uns selbst nur gut gehen soll, nicht der Natur!
Wenn wir unsere wirklichen und tiefen, unsere primären Bedürfnisse erkennen und befriedigen, werden wir von einer ungeahnten Bescheidenheit und
Genügsamkeit sein, die dazu führen wird, daß die Zerstörung der Erde aufhört. Aber solange wir Bescheidenheit und Genügsamkeit als zu erfüllendes Ideal betrachten, zerstören wir weiter die Erde.
Reich setzte seine orgonomischen Instrumente an der Erdatmosphäre ein wie der Akkupunkteur seine Nadeln am Körper. Aber du kannst niemanden
wirklich mit Akkupunktur zur Freiheit bringen, zur Erlösung, zum Verschmelzen mit dem Kosmos. Ich habe nichts gegen die Anwendung von Akkupunktur, aber ich weiß, daß sie nicht zur Erlösung führt. Die Energien
fließen erst dann frei und sorgen für das Gleichgewicht und für das natürliche Funktionierern des gesamten Organismus und somit aller Organe, wenn ich selbst ganz und gar mein Körper bin, wenn ich mich von ihm
leiten und tragen lasse.
Solange ich aber dieses „Gleichgewicht“ anstrebe, solange ich an meinen „Organismus“ anstatt an mich selbst denke, solange bleiben ich
und mein Organismus im Ungleichgewicht.
Die Erlösung – das „Gleichgewicht“ – ist erst die totale Annahme der ganzen Wahrheit, die Annahme der allertiefsten Gefühle, die
Annahme meiner wirklichen Person, so wie ich bin.
Das wußte Reich im Grunde auch. Er hätte in etwa gesagt: Dann erst gibt es so eine Art Ausgleich sowohl in dir als auch zwischen dir und der
Welt, eine direkte Harmonie zwischen der Welt und uns; dann sind wir sozusagen Teil der Welt. Jetzt sind wir alle Kapseln, die durch die Welt fliegen, zurückgezogen, in uns eingepanzert. Erst wenn wir diese Panzer
einschmelzen und aus ihnen herausfließen, werden wir wieder Teil der Welt und können in ihr dahinströmen und in ihr aufgehen ohne Angst. Dann treiben wir alle im ewigen Blau dahin, verschmelzen sich alle
Energien in einer Energie, in jenem blauen Ozean... Wir wirbeln alle für uns, aber eigentlich sind wir alle Teil dieses einen Ozeans... wie die Walkuh mit ihrem Jungen – völlig einsam, allein,
verloren in unendlicher Weite und Dunkelheit – aber dennoch völlig angstfrei!
Aber obwohl er eigentlich von der entscheidenden Bedeutung der einfachen Wahrheit wußte, setzte er seine Patienten in den Orgonakkumulator...
Die nackte Wahrheit weckt so viel Energien, wie sie keine Tausend Orgonakkumulatoren akkumulieren können!
So schön die Reich’schen Begriffe und Bilder alle sind – wir müssen sie vernichten und vergessen! Scheiß doch auf das Wecken der
„Energie“!
Warum hat Wilhelm Reich diese Konsequenz nicht erreichen können? Warum ist er zeit seines Lebens Wissenschaftler geblieben?
Die Antwort ist ganz einfach: Er klammerte sich an seine Bilder, an seine Symbole, an seine „Energie“; er flüchtete vor einer ganz einfachen
Sprache in seine wissenschaftliche Sprache aus purer Angst!
Er, der so viel wußte über die Angst, war selbst noch von solch einer gigantischen Angst!
Er hat sich dieser Angst und den darunterliegenden Verletzungen nie gestellt. Ein deutliches Zeichen dafür war seine Kettenraucherei. Ein wirklich
ge- und erlöster Mensch raucht nicht.
Und damit kommen wir auf Wilhelm Reichs großen Fehler zurück, der darin bestand, daß er nicht wirklich bis auf den Grund seiner eigenen
Emotionen getaucht ist. Die Kenner der Reich’schen Biographie wissen, wo seine weißen Flecken lagen und wovor er ausgewichen ist.
Reich war ein großartiger Pionier; man kann ihm den Fehler nicht vorwerfen. Dem – wie er es genannt hätte – kosmischen Schmerz der
Verletzungen konnte er sich einfach noch nicht hingeben. Dazu war er zu allein. Das hält man ohne verständige Begleitung nicht aus. Doch war er es, der das Terrain vorbereitete, auf dem wir heute die tiefsten und
kosmisch-schmerzlichsten Wahrheiten annehmen können.
Das Ermöglichen der Hingabe an die tiefsten Gefühle blieb seinem Nachfolger Arthur Janov vorbehalten, und die Weiterentwicklung der
Janov’schen Praxis und Theorie bleibt dem Nationalanarchismus vorbehalten.
Ich denke, einigermaßen klar dargestellt zu haben, warum Wilhelm Reich Pate des Nationalanarchismus ist, worin aber sein Holzweg bestand und warum
wir ihm nicht auf diesen folgen.
1 Wilhelm Reich, Die kosmische Überlagerung, deutsche Erstausgabe Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 1997, S. 134
„Traumpferd“, Acryl auf Holz, von Hanne Pfiz-Soderstrom
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